Fehlerbericht #791: „Durch Verkettung vieler Ereignisse und einen großen Fehler rutschte uns ein Patient in unserem System durch. Folgende Diagnosen waren bekannt: Diabetes Typ 2, Pneumonie, Hepatitis C. Aufgrund dieser Diagnosen sind einige Blutentnahmen erforderlich und mehrere Recalls (vierteljährlich und jährlich) gesetzt. Ende des Jahres wurde noch die Diagnose Polyarthritis gestellt und mit einer MTX-Therapie begonnen. Laut unserem Standard wurde ein ‚Bäpper‘ (Turbomed) mit Kontrollen gesetzt. Dann wurde aber vergessen, die Recalls zu setzen. Das erste Mal fiel die fehlende Blutentnahme auf, als der Patient sich nach seinem Röntgenbefund erkundigen wollte. Der Arzt spricht mit dem Patienten über den Röntgenbefund, vergisst aber ihn auf die bevorstehende Blutentnahme hinzuweisen, ein Recall wurde nicht gesetzt. Letztendlich wurde erst vier Monate später eine Blutentnahme gemacht“, berichtet eine Praxis auf www.jeder-fehler-zaehlt.de. Als mögliche Gründe nennt sie: „Es wurde kein Recall gesetzt und auf dem Desktop befanden sich sehr viele Bäpper. Vielleicht zu undurchsichtig auch für neue Kollegen.“
In Der Hausarzt 1/2016 haben wir über diesen Fall des multimorbiden Patienten berichtet, bei dem die fällige Blutbildkontrolle unter Methotrexat-Therapie lange versäumt wurde (oben gekürzte Darstellung). Dazu erreichte uns ein Leserbrief eines Hausarztes, der Fragen aufwirft, die sich viele Leser gestellt haben mögen.
Leserbrief
Da ist mir doch ein bisschen (arg!) viel Asche auf das Haupt der Praxis geraten! Meinen Sie nicht, dass ein Patient, der so eindrucksvolle Krankheiten präsentiert, sich doch auch selbst um seine Termine und deren Überwachung zur Einhaltung derselben kümmern muss? Sind Sie ernsthaft der Ansicht, dass eine Hausarztpraxis verantwortlich sein soll für einen Terminkalender von Patienten? Konterkariert ein solch übertriebenes Fürsorgemanagement nicht auch den „informed consent“ und die zugehörige „decision“? Ich gehe bei meiner Frage dabei davon aus, dass eben dieser Patient sehr wohl einen Terminzettel mitbekommen hat oder er gesagt hat „das merk‘ ich mir“ -freilich zuoberst vorausgesetzt, dass er weiß, dass er Kontrollen zu durchlaufen hat, aufgrund welcher Erkrankung(en), anders kann der Fall ja auch gar nicht abgelaufen sein. Wir fordern von allen unseren Patienten immer Eigenverantwortung ein – sofern sie dazu in der Lage sind, eigenständig zu entscheiden und davon gehe ich auch bei Fall #791 aus.
Dr. Richard Barabasch, Allgemeinarzt, Diabetologe, Pommersfelden
Dr. Barabasch wirft wichtige Fragen zur Patientensicherheit in der Hausarztpraxis auf, die auch die Nutzer beim zugehörigen Fallbericht auf www.jeder-fehler-zaehlt.de kontrovers diskutieren. Zunächst ist aber zu unterscheiden zwischen dem emotionalen Fallbericht #791 und der neutraleren Einschätzung im Beitrag, der ohnehin auf einen anderen Punkt abzielte: die besondere Fehleranfälligkeit bei Multimorbidität. Wir wollen aber gerne auf die sich grundsätzlich stellenden Fragen eingehen:
1. Recall-System: ja oder nein?
Wenn ein Hausarzt ein Recall-System in der Praxis hat (unabhängig von der Notwendigkeit), muss es möglichst fehlerfrei laufen. Denn zwei Beteiligte – Praxisteam und Patient – verlassen sich darauf. Manchmal kann es dann besser sein, weniger Service in der Praxis zu bieten, diesen aber dafür störungsfrei.
2. Wie weit geht die Eigenverantwortung der Patienten?
Die Eigenverantwortung des Patienten trägt sicher auch zur Patientensicherheit bei. Dennoch gibt es Beispiele, in denen Patienten trotz Aufklärung und „Kontrollzettel“ die Bedeutung einer Untersuchung nicht aus reichend einschätzen können. So handelt es sich im beschriebenen Fall #791 um eine sehr wichtige Untersuchung für Patienten, die Methotrexat erhalten. Dass dies auch gravie rend schief gehen kann, zeigt zum Beispiel Fehlerbericht #201. Es ist nicht falsch, wenn solche wichtigen Untersu chungen doppelt, also auch praxisseitig abgesichert werden. Zumal man zwei feln darf, dass dem Patien ten die erheblichen Risiken bei MTX hinreichend klar sein konnten, selbst wenn er einen Kontroll zettel bekommen hat.
3. Ein Recall für jede Untersuchung?
Patienten können das besondere Risiko spe zieller Therapien oder die Bedeutung von Kontrolluntersuchungen nicht immer selbst einschätzen – dies gilt umso mehr bei Mul timorbidität, wie sich allein an den zahlrei chen notwendigen Kontrollen ersehen lässt: „…fiel die fehlende Blutentnahme auf, als der Patient sich nach seinem Röntgenbefund [sicher einer weiteren wichtigen Untersuchung; Anm.d.A.] erkundigen wollte“. Da können selbst sehr umsichtige, gut informierte Pati enten durcheinander kommen.
Insofern sollte zumindest für wichtige Kon trollen ein Recallsystem angeboten werden, um die Patientensicherheit zu erhöhen. Das heißt ja nicht, dass jeder Termin – auch zu weniger wichtigen Routinekontrollen – dort eingetragen werden muss.
4. Wie wird der Befund kommuniziert?
Ein weiterer wichtiger Punkt: Die Entgegen nahme/Auswertung der Laborbefunde sowie deren Rückmeldung an Arzt und Patient ist die „Achillesferse“ des Systems. Denn mit der Laborprobe verlässt der „Fall“ zunächst die Praxis, und mit Rückmeldung des Ergeb nisses muss er wieder in den Praxisablauf (und die Patientenakte) eingepflegt werden. Für die Praxisorganisation im Hinblick auf die Patientensicherheit ergeben sich daraus folgende Herausforderungen:
- Das Praxisteam (wer?) muss einen Über blick über ausstehende Laborbefunde haben.
- Es muss klar geregelt sein, dass alle Befun de auf Abweichungen geprüft (und nicht einfach „abgeheftet“) werden.
- Ebenso muss klar sein, ob der Patient in der Praxis nachfragen soll oder die Praxis ihm ungefragt das Ergebnis mitteilt. Die schlechteste, weil fehleran fällige Lösung ist: „Wenn wir uns nicht melden, wird alles in Ordnung sein.“ Ge nauso wenig darf die Praxis erst auf Nach frage des Patienten feststellen, dass ein Befund noch aussteht oder verlorengegan gen ist.
Fazit
Patienten sollen dazu angehalten werden, verantwortlich mitzuwirken. Das ist aber ein „zweites Sicherheitssystem“ und kann das der Praxis nicht ersetzen. Sehr wichtig ist, dass die jeweiligen Verantwortlichkei ten klar beschrieben sind und das Team sie auch „lebt“.
- Für wichtige Untersuchungen sollte die Praxis ein Recallsystem anbieten (das dann aber auch funktionieren muss).
- Das Team kann und sollte die praxisorga nisatorischen Abläufe bei Laborkontrollen vorausschauend in regelmäßigen Abstän den prüfen und besprechen. Zahlreiche Fehlerberichte in JFz zeigen, dass hier viele Fehlerquellen lauern.
Übrigens: Laborkontrollen in der Hausarzt praxis sind nicht nur in Deutschland, son dern weltweit ein Problem – die amerika nische Patientensicherheitsforscherin Nancy Elder sprach kürzlich von einem „blind spot“ der Patientensicherheit [1]. Wie machen Sie es in Ihrer Praxis – fühlen Sie sich gerüstet?
Wir danken Dr. Barabasch für den beden kenswerten Leserbrief!
Literatur: 1. Elder NC: Laboratory testing in general practice: a patient safety blind spot. BMJ Qual Saf 2015;24:667-70
Fehlerbericht #201
Ein 79-jähriger Patient erhielt wegen einer rheu-matoiden Arthritis 7,5mg Methotrexat/Woche als Basistherapie (Antirheumatikum mit Modifikation des pathologischen Prozesses(AMPP)). Anfangs erfolgten die Blutbild-, Leber- und Nierenwertkontrollen in 14-tägigen Abständen, dann in vierwöchentlichen. Im März war das Blutbild o.B.. Bei einem Hausbesuch im November desselben Jahres war noch alles in Ordnung. Drei Monate später erfolgte ein dringender Hausbesuch. Der Patient war schwer krank! Labor: Leukozyten 2,2×103/Mikroliter, Erythrozyten 2,1×106/Mikroliter, Hämoglobin 5,9g/dl, Thrombozyten 21×103/Mikroliter
Was war das Ergebnis?
Durch sträfliche Vernachlässigung der Blutkontrollen war die gefürchtete „Methotrexat-induzierte“ Panzytopenie aufgetreten. Es erfolgte die Einweisung in die Klinik. Dort verstarb der Patient nach zehn Tagen an der Panzytopenie durch Methotrexat.
Mögliche Gründe, die zu dem Ereignis geführt haben können?
Ich habe versäumt, ein gutes Recall-System zu entwickeln, um die Blutuntersuchungen zeitgerecht durchzuführen. Der liebenswürdige Patient ist durch meine Schuld verstorben. Noch heute betreue ich die schwerkranke Ehefrau und den nun erkrankten Sohn. Wenn ich das Haus betrete, legt sich ein Schleier um mein Herz. Ich habe nach dem Tod lange an Suizid gedacht und teile dieses Ereignis hier zum ersten Mal mit.
Welche Maßnahmen wurden aufgrund dieses Ereignisses getroffen oder planen Sie zu ergreifen?
Klare Signalkarten auf die Karteikarte. Klares Recallsystem im Computer, klare Anweisung an das Labor, wann diese Patientengruppe untersucht werden muss.
Welche Faktoren trugen Ihrer Meinung nach zu dem Fehler bei?
Kommunikation, Aufgabenverteilung, Organisation.
Wie häufig tritt dieser Fehler ungefähr auf?
Erstmalig.