Fallbeispiel:
Nach Abklärung in der Uniklinik und Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenkasse (MDK), ist die 55-jährige Kauffrau Frau V. (verheiratet) wieder genesen. Neun Monate war sie aufgrund einer nicht alkoholbedingten Lebererkrankung krankgeschrieben. Ohne einen Arbeitsversuch aufzunehmen, meldet sich Frau V. nun bei ihrer Hausärztin und klagt über Schlafstörungen, Tinnitus und Schwindel. “Nein, ich fahr da nicht mehr hin. Das mache ich nicht mehr, das geht nicht mehr”, erzählt die Patientin. Die Hausärztin weiß, dass die Patientin psychosozial und arbeitsbedingt belastet ist: sie pflegt Angehörige, fährt seit 25 Jahren je zwei Stunden vom Dorf in die Stadt zur Arbeit. Wegen der zuvor langen Arbeitsunfähigkeit (AU) meldet sich die Krankenkasse frühzeitig mit Muster 52 (Fortbestehen der AU) bei der Hausärztin. Die Ärztin sieht sich nicht in der Lage, an den grundsätzlichen Problemen der Patientin etwas lösen zu können, und erkennt, dass die Patientin die Krankschreibung als Entlastung wahrnimmt (“Ich kann das auch nicht lösen, aber viele flüchten sich dann in diesen Krankenschein”). Bis zur fachärztlichen Abklärung (HNO und Psychiatrie) wird es bis zu acht Wochen dauern. Als Begründung für die AU kann sie nur Verdachtsdiagnosen stellen, spätestens nach vier Wochen wird sich die Kasse erneut mit Muster 52 melden. Zwischen dem Wunsch nach Alimentierung und dem Gebot der Aktivierung muss die Hausärztin entscheiden, ob sie die Patientin erneut arbeitsunfähig schreibt oder nicht.
Die Attestierung von Arbeitsunfähigkeit (AU) bei psychischen Beschwerden ist ein komplexer Prozess im Spannungsfeld zwischen Einzelfallorientierung und sozialer Kontrolle. Sie ist eine Herausforderung für das hausärztliche Handeln und gewinnt an Bedeutung: Die Krankheitstage aufgrund psychischer Erkrankungen haben seit 2005 um 79,3 Prozent zugenommen, zeigt der Fehlzeiten-Report 2017. In 2016 fielen elf Prozent der Beschäftigten aufgrund psychischer Erkrankungen aus. Zudem fehlten sie mit 25,7 Tagen/Fall durchschnittlich doppelt so lang wie der Durchschnitt (11,7 Tage/Fall) [1].
Hausärzte sind als erste mit psychischen Beschwerden ihrer Patienten konfrontiert und in einer Schlüsselposition für die weitere Behandlung: Sie müssen die Beschwerden klassifizieren, attestieren oft die erste AU und gegebenenfalls deren Fortschreibung oder Beendigung. Dabei sind Hausärzte mit einem nicht vorselektierten Krankheitsspektrum konfrontiert und müssen insofern unter Unbestimmtheit und Unsicherheit in komplexen Entscheidungsprozessen zwischen Patienteninteressen und Systembezügen handeln [2]. Daraus ergeben sich spannungsreiche Herausforderungen zwischen Alimentierung und Aktivierung ihrer Patienten – wie im Fall von Frau V.
Spannungsfelder und Professionalität
Wie wird die Hausärztin von Frau V. über die Fortsetzung oder Beendigung der AU entscheiden? Mehr diagnostische oder therapeutische Fakten lösen das Problem nicht. Es geht grundsätzlich um die Frage, in welchen Spannungsfeldern sich Hausärzte in solchen alltäglichen Situationen befinden und wie sie diese reflektieren. Das untersucht die Universität Magdeburg.
Die Studie zeigt, dass der komplexe Entscheidungsprozess von AU-Attestierung unterschiedlichen und zum Teil gegensätzlichen Geltungsbereichen untersteht (Antinomien, s. Definition). In einer Antinomie geraten zwei Geltungsbereiche in Spannung. Antinomien sind konstitutiv für professionelles Handeln [3] und greifen weiter als Rollenkonflikte. Während Hausärzte bei Rollenkonflikten souverän zwischen ihren verschiedenen Rollen handeln und diese miteinander vereinbaren können, verhält es sich mit Antinomien anders: Sie können nicht aufgehoben werden, sind also prinzipiell unentscheidbar, und nicht durch Leitlinien zu kontrollieren. Sie erfordern von Hausärzten einen reflexiven Umgang: Verleugnen, verdrängen oder nehmen Hausärzte Anitomien nicht wahr, besteht die Gefahr, dass sie im Krankheitsverlauf strukturelle Fehlentscheidungen treffen, und die Gefahr der Deprofessionalisierung. Am Beispiel von Frau V. lassen sich drei Antinomien darstellen:
- Zwei Pole der Arzt-Patienten-Beziehung (sich widersprechende Beziehungslogiken): Einerseits müssen Hausärzte in der Sachorientierung distanziert sein. Gleichzeitig sind sie aber in der Patientenorientierung emotional involviert. Es kommen Fragen auf: Empfindet die Hausärztin die Symptome von Frau V. als glaubwürdig und würde sie weiter krankschreiben? Welche Konsequenzen in Hinblick auf Chronifizierung könnte das wiederum für die Patientin haben?
- Hiatus zwischen Begründungspflicht und Entscheidungszwang [3] (Kluft zwischen zwei Geltungsbereichen): Einerseits müssen Hausärzte zum Beispiel der Krankenkasse gegenüber ihr ärztliches Handeln begründen. Andererseits wird die erforderliche Diagnostik zur definitiven Absicherung noch Zeit brauchen. Dieser Hiatus zwischen Begründungspflicht und Entscheidungszwang ist antinomischer Struktur.
- Fallbezug versus Systembezüge:Handelt es sich bei Frau V. primär um ein medizinisches oder soziales Problem? Wenn es ein primär soziales Problem ist, wäre die Hausärztin dann nicht verpflichtet, sich mehr die Position der sozialen Sicherungssysteme zu Eigen zu machen? Diese Überlegungen beschreiben die Grundantinomie zwischen Fall- und Systembezügen. Es wird deutlich, dass Hausärzte sich am konkreten Einzelfall orientieren, gleichzeitig aber die vielfältigen systemrelevanten Bezüge den Krankheitsverlauf strukturieren und beeinflussen.
Fazit
Bedeutung von Austausch und Kooperation: Selbstreflexion, also die Selbstbesinnung hinsichtlich eigener Anteile in der professionellen Arbeit, Erwartungen des Patienten und weiterer sozialer Akteure und Systemzwänge, spielen für Hausärzte eine wichtige Rolle, etwa in der Frage der Abgrenzung oder der Perspektivenübernahme im Fallbezug wie in den Systembezügen. Emotionale Muster wie Ärger, aufreibendes Mitgefühl, Vorwürfe und Frustration können auf ein Spannungsfeld hinweisen, das der Arzt selbstreflexiv bearbeiten kann: Dazu nötig und entlastend ist es, die inhärenten Spannungen und Dilemmata zu diskutieren, zum Beispiel in Balintgruppen, Supervision und Qualitätszirkeln.
Ebenso wichtig ist die hausärztliche Versorgungskompetenz, das heißt die kollegiale Zusammenarbeit, Austausch und die Fähigkeit, Präferenzen der Patienten ernst zu nehmen. Das Wissen um Antinomien und wie man sie reflexiv erschließen kann, beugt systematischen Fehlern vor.
Die interaktive Position der Profession Hausarzt: Hausärzte sind Mitspieler im System. Das erfordert von ihnen, andere Perspektiven übernehmen zu können, besonders wenn das Medizinische nicht mehr dominiert. Hausärzte sind dem einzelnen Patienten verpflichtet und eingebunden in ein Geflecht verschiedener Akteure der Systembezüge. Gleichzeitig wird Hausärzten Entscheidungs- und Definitionsmacht über soziale Problematiken zugewiesen. Mit der Attestierung einer AU bearbeiten sie eine hochkomplexe ärztliche Aufgabe mit biopsychosozialen, ökonomischen und arbeitsplatzbezogenen Zusammenhängen. Hausärzte sind insofern “Spezialisten” für die Bearbeitung der Komplexität von AU-Attestierungen. Sich diese eigene Bedeutung bewusst zu machen, als wichtiger Akteur in ein soziales System eingebunden zu sein (etwa bei der Weichenstellung über weitere AU zu entscheiden oder diese zu beenden), kann einen andererseits von Druck und unreflektierter Verantwortungsübernahme entlasten.
Definition Antinomie nach Helsper [3]
Antinomien (gr. nómos: Gesetz):
- zwei Geltungsbereiche sind in Konflikt
- gehören konstitutiv zum professionellen Handeln
- sind nicht aufhebbar, unentscheidbar, nicht kontrollierbar
- erfordern reflexiven Umgang
- Nicht-Wahrnehmen führt zu strukturellen Fehlertendenzen
- erfordern kontinuierliche Professionsentwicklung
Muster 52
Das Muster 52 zur Fortbestehung einer AU müssen Ärzte nur auf Anfrage der Krankenkasse ausfüllen. Zudem muss die AU eines Erkrankungsfalls kumulativ mindestens schon 21 Tage dauern. Die Antwort muss innerhalb von drei Werktagen erfolgen, relevante Befunde schickt der Arzt in einem verschlossenen Umschlag an die Kasse. Diese stellt ihm den Umschlag frei zur Verfügung. Ihren Aufwand können Ärzte mit der 01622 EBM abrechnen (8,84 Euro).
Das Projekt
Das DFG geförderte Projekt „Zwischen Fall- und Systembezug – Professionelles Selbstverständnis und Handlungslogiken von Hausärzten bei der Attestierung von Arbeitsunfähigkeit aufgrund psychischer Beschwerden“ leiten Prof. Markus Herrmann, Institut für Allgemeinmedizin, in Kooperation mit Prof. Bernt-Peter Robra und Dr. Anke Spura, Institut für Sozialmedizin und Gesundheitsökonomie, von der Universität Magdeburg. Es untersucht, wie Hausärzte in Sachsen-Anhalt bei Entscheidungen über Krankschreibung bei psychischen Beschwerden die Interessen ihrer Patienten vertreten, aber auch als Gutachter wirken und die Anforderungen der Träger der sozialen Sicherung und weiterer Systembezüge zu berücksichtigen haben [Herrmann et al. 2016]. Es erfolgten 37 themenzentrierte halbstrukturierte Interviews mit Hausärzten, die mit qualitativen sozialwissenschaftlichen Methoden (Grounded Theory und qualitative Inhaltsanalyse) analysiert wurden. Die Teilnehmer waren zwischen 32 und 75 Jahre alt, kamen aus ländlichen und städtischen Regionen Sachsen-Anhalts und sind in verschiedenen Praxisformen (Einzel-, Gemeinschaftspraxen und MVZ) tätig.
Literatur
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- Badura B, Ducki A, Schröder H, Klose J, Meyer M, Springer-Verlag GmbH. Fehlzeiten-Report 2017: Krise und Gesundheit – Ursachen, Prävention, Bewältigung. Berlin: Springer; 2017
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- Barth N, Nassehi A, Schneider A. Umgang mit Unbestimmtheit. Zur Hypermodernität des Hausarztes. Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qual im Gesundheitswes ZEFQ 2014:108, S. 59-65
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- Helsper W. Antinomien und Paradoxien im professionellen Handeln. In: Dick M, Marotzki W, Mieg H, editors. Handbuch Professionsentwicklung. Verlag Julius Klinkhardt; 2016. p. 50–62
- Herrmann, Markus, Matt-Windel, Susanna, Spura Anke, Robra Bernt-Peter. Attestierung von Arbeitsunfähigkeit bei Patienten mit psychischen Beschwerden – Konfligierende Aufgaben und daraus abgeleitete Paradoxien hausärztlichen Handelns. Schattauer Verlag, Ärztliche Psychotherapie 2016; 11: 211–216