Mein rechter Arm ist nach hinten gebunden, ich trage eine Augenklappe und habe einen Lutscher im Mund – das führt zu vermehrter Speichelproduktion. Ich bin alt und leide unter einer Hemiparese. Zumindest heute, auf dem Workshop Instant Aging beim DEGAM-Kongress. Ich kann plötzlich die normalsten Dinge nicht mehr:
Wie soll ich als Rechtshänder mit der linken Hand essen, wo immer der Teller kippt, wenn ich die Rinde am Brot abschneiden möchte? Wie kann ich einhändig an der Kasse bezahlen, wenn ich mit einer Hand gleichzeitig das Portemonnaie halten und die Münzen raussuchen muss? Und wie soll ich eine Einkaufsliste mit links schreiben, wenn das Papier immer wegrutscht? Beim Trinken aus einem kleinen Tetrapack mit Strohhalm fließt mir Speichel aus dem Mund. All das gestaltet sich schwieriger, als gedacht. Erst als ich Hilfsmittel bekomme, wie ein Brettchen mit Spitzen, kann ich das Brot fixieren fürs Schneiden und Streichen. Ein Silikonunterleger verhindert das Wegrutschen von Gegenständen, sogar von Papier. So dankbar war ich selten für Hilfe. Weiß man, dass ältere Menschen sowieso keinen rechten Appetit und oft auch keinen Durst mehr haben, kann ich mir jetzt vorstellen, warum die Lust auf Essen oder Trinken sich bei ihnen in Grenzen hält.
Instant Aging ist eine Methode, wie typische körperliche Einschränkungen älterer Menschen am eigenen Körper simuliert und somit selbst erlebt werden können. In Kanada, den USA und England ist dieses Konzept schon länger bekannt. Dabei werden etwa Erkrankungen des Bewegungsapparats, des Nerven- oder Herz-Kreislaufsys-tems simuliert. Laut Simmenroth-Nayda et al. eignet "Instant Aging" sich vor allem, um zu erleben, wie chronisch kranke und ältere Patienten sich fühlen (doi: 10.1055/s-2007-980198).
"Alles ist anstrengend"
An einer anderen Station wird simuliert, wie sich ein alter Mensch mit Seh- und Höreinschränkungen sowie Alterstremor fühlt. Handschuhe, die an ein TENS-Gerät angeschlossen sind, lassen die Hände zittern; eine Brille schränkt das Sichtfeld ein; Ohrstöpsel vermindern die Hörfähigkeit. Die Wahrnehmung ist so stark herabgesetzt, dass alles anstrengend ist. Was mit den Händen gemacht wird, wird durch das Zittern erschwert. Das Telefonieren mit dem Arzt, das Verstehen und Eintragen eines Wertes in den viel zu kleinen Medikamentenplan zehrt an den Nerven. Ich frage dreimal nach, trage dann frustriert ein, was ich glaube, verstanden zu haben.
Wie fühlen sich alte Menschen? Dieser Frage ist der Workshop Instant Aging praktisch nachgegangen. Was sind denn eigentlich die Probleme bei alten Menschen, womit haben sie zu kämpfen? Das sollen die Teilnehmer am eigenen Leib erfahren. Der Kurs ist vor allem für in Pflegeberufen Tätige gedacht, die die Erfahrungen mit in die Praxis nehmen. Das Ziel ist es, im Umgang mit alten Patienten empathiefähiger zu sein.
Alt fühlt man sich ab 57
Alt fühlt sich der Deutsche ab 57 Jahren, nach Definition geriatrischer Fachverbände ist ein geriatrischer Patient im höheren Lebensalter (70 Jahre oder älter) und leidet an Geriatrietypischer Multimorbidität – er hat also alterstypische Einschränkungen wie zum Beispiel Inkontinenz oder Sturzneigung. Oft werden ältere Menschen von Pflegekräften generell als hilfsbedürftig wahrgenommen. Das ist kontraproduktiv, da man dann meist nicht individuell auf den Patienten eingeht. Man lässt die Sorgen und Hilfsbedürftigkeit, die er tatsächlich hat, unbeachtet und hilft ihm gleich bei allem. Sinnvoll ist dagegen, da wo es noch gut geht, dem Patienten die Eigenständigkeit zu lassen und wo Schwierigkeiten bestehen, den Patienten gezielt zu fördern.
Was sich im Alter verändert, referiert Workshopleiterin Grit Hübsch, Krankenschwester und Studienassistentin am Institut für Allgemeinmedizin an der Technischen Universität Dresden: Bei der Lunge sinkt die Elastizität des Lungengewebes, der Brustkorb wird starrer, der Patient gerät eher in Luftnot. Die Blutgefäße sklerotisieren, die typischen Herz- Kreislauferkrankungen treten auf, Schlaganfall, Herzinfarkt. Die Mobilität ist eingeschränkt, alles dauert etwas länger. Die Patienten müssen häufiger die Toilette aufsuchen, was zu Schwierigkeiten in der Planung des Tagesablaufes führen kann. Sie leiden unter einer verzögerten Reaktions- und Entscheidungsfähigkeit, was viel Geduld im Umgang abverlangt. Ältere hören nicht nur schlechter, sie können auch schlecht orten, wo ein Geräusch herkommt. Das Sehfeld ist eingeschränkt, die Brille hilft oft nicht mehr. Jede Türschwelle kann zum Problem werden für den Patienten.
Medikamentenpläne in großer Schrift
Am Ende des Workshops werden die Teilnehmerinnen gefragt, was sie nun nach der Selbst-Erfahrung denken, was man im Umgang mit älteren Menschen verändern könnte?
Eine Teilnehmerin sieht es als wichtig an, öfter nachzufragen, ob der Patient alles verstanden hat. Und darauf zu achten, dass man den Patienten immer von vorne anspricht.
Desweiteren kann man den Patienten zeigen, wie man Besteck oder Stifte präpariert, zum Beispiel kann man diese mit Moosgummi ummanteln, das kostet weniger als entsprechende Hilfsmittel im Spezialgeschäft zu kaufen. Sogenannte Einhandbretter erleichtern das Selber-Essen.
Medikamentenpläne sollten in sehr großer Schrift und mit großen Fenstern fürs Eintragen versehen sein. Medikamente, wenn möglich, so verschrieben werden, dass der Patient sie nicht teilen muss. Als besonders ärgerlich beschreibt ein Arzt die Rabattverträge mit den Krankenkassen, die ihn zwingen, Patienten immer neue Packungen zu verschreiben, die optisch voneinander abweichen. Das verwirre die Patienten zusätzlich. Er regt an, der Gesetzgeber sollte ebenfalls einmal den Kurs Instant Aging belegen.
Quelle: "Instant Aging – Selbsterfahrung des Alterns", DEGAM-Kongress, 1.10.16 in Frankfurt/Main