PraxisorganisationCorona hat viele Praxisabläufe nachhaltig verändert

Vor einem Jahr hat die Corona-Pandemie auch Deutschland erreicht. Seither hat sich für Hausärztinnen und Hausärzte viel verändert: von neu organisierten Praxisabläufen über eine bis dato ungekannte Flut von Gesetzen und Verordnungen bis hin zu veränderten Beratungsanlässen. Doch was bleibt davon?

Seit die Corona-Pandemie vor einem Jahr in Deutschland angekommen ist, hat sich in meinem Praxisalltag einiges grundlegend verändert. Und viele dieser Änderungen könnten auch nach dem Ende der Pandemie bleiben. Corona war in vielen Bereichen nur ein Beschleuniger für Überlegungen, die uns ohnehin schon begleitet hatten.

Termin- statt offener Sprechzeit

Besonders deutlich wird das bei der Praxisorganisation. Wir waren bis letztes Jahr eine Praxis, in die man einfach reinkommen konnte, wann man wollte. Das Wartezimmer und nicht selten der Vorplatz vor der Praxis waren immer voll, Rezepte wurden mal schnell “nebenbei” abgeholt. Schon länger habe ich mit dem Gedanken gespielt, auf eine Terminsprechstunde umzustellen. Die Pandemie hat mich letztlich gezwungen: Wir haben von einem Tag auf den anderen eine Infektsprechstunde eingerichtet, ebenso feste Abholzeiten für Rezepte. Die Praxistür ist seitdem verschlossen, die Patienten können die Praxis nur nach Klingeln einzeln betreten. Auch Akutpatienten bekommen einen festen Termin innerhalb des Tages. Haben zuvor zwölf Stühle im Wartezimmer oft nicht gereicht, sind heute nur noch vier Stühle vorhanden – und selbst diese meist nicht besetzt.

Patienten tragen Neuerungen mit

Für mich als Hausärztin bedeutet das eine bessere Planbarkeit und größere Ruhe im Alltag. Und das werde ich auch nach der Pandemie nicht missen wollen: Ob ich die Infektsprechstunde beibehalten werde, weiß ich zwar noch nicht, die Organisation als feste Terminsprechstunde bleibt in jedem Fall. Auch bei vielen Kolleginnen und Kollegen dürften solche Umstrukturierungen als “neues Normal” verbleiben.

In der Vergangenheit hatte ich durchaus Sorge, ob die Patientinnen und Patienten eine solche Veränderung akzeptieren würden. Heute zeigen mir zahlreiche positive Rückmeldungen: Auch sie schätzen die deutlich besser organisierte Sprechstunde und gute Planbarkeit.

Was jedoch weniger nachhaltig bleiben wird: die große Dankbarkeit, die mir im Frühjahr entgegengeschlagen ist. Sie weicht mehr und mehr einer “Corona-Müdigkeit”. Das ist schade. Ich hätte mir gewünscht, dass in der öffentlichen Wahrnehmung Verständnis und Wertschätzung für unsere Arbeit und die der medizinischen Fachangestellten (MFA) bleiben.

Deutlich mehr als zuvor beraten wir über das Telefon. Gerade die Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigung (AU) per Telefon, die bislang ja nur temporär aufgrund der Pandemie gestattet ist, wird von unseren Patientinnen und Patienten gut angenommen. Das zeigt mir, dass die Telefon-AU beide Seiten auch dauerhaft gut entlasten könnte und es daher gut und wichtig ist, dass sich der Deutsche Hausärzteverband auch für die Pandemie-unabhängige Möglichkeit der Telefon-AU einsetzt. Sie wäre für uns Ärzte ja kein Muss, sondern nur eine weitere Option im Alltag.

Persönlicher Kontakt unersetzbar

Die “Beschleunigung” durch Corona zeigt sich auch mit Blick aufs Digitale: Wir haben beispielsweise einen Anrufbeantworter mit Künstlicher Intelligenz (KI) installiert. Dieser leitet Patientinnen und Patienten sprachgesteuert durch ein Programm – Terminanfrage, Rezept, andere Anliegen. Die Anrufer fühlen sich damit sofort “wahrgenommen”, und meinen MFA hilft es beim Vorsortieren der Anliegen. Ob wir eine solche Einführung ohne Corona so schnell gemacht hätten? Das weiß ich nicht. In einem anderen Bereich hingegen unterstreicht die Corona-Pandemie, was vermutlich immer so bleiben wird: Der persönliche Kontakt zwischen uns Hausärzten und unseren Patienten ist unersetzbar – und mindestens so gefragt wie in Nicht-Pandemie-Zeiten. Die Videosprechstunde etwa bieten wir an, sie wird aber schlichtweg nicht angenommen. Und das, obwohl meine Praxis in Hamburg als Stadtpraxis einen vergleichsweise jungen und damit doch vermeintlich an digitalen Angeboten interessierten Patientenstamm hat. Mir zeigt das, dass der persönliche Kontakt wichtig ist und Video dafür keinen Ersatz bieten kann.

Neue Beratungsanlässe kommen in die Praxis

Angststörungen und Depressionen betreffen häufig nicht mehr nur bekannte Patienten mit solchen Diagnosen, die unter den Corona-Beschränkungen besonders leiden.

Auch bislang “unauffällige” Patienten haben, etwa nach Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit, mitunter entsprechende Symptome, wie zahlreiche Hausarztpraxen gegenüber “Der Hausarzt” berichten. Hinzu kommen “Randthemen” wie Kinderbetreuung oder Überforderung durch Homeoffice plus Homeschooling bei weniger sozialen Kontakten.

Das Krankheitsbild “Long Covid”, also Spätsymptome einer durchgemachten COVID-19-Erkrankung, ist bislang eher in Post-Covid-Ambulanzen als in Hausarztpraxen Thema.

Die Spätsymptome sind zum Teil unspezifisch und derzeit noch schwer in Bezug auf bleibende Schäden zu beurteilen. Jedoch beschäftigen sich viele Studien damit; perspektivisch könnte es als Beratungsanlass verstärkt in der Hausarztpraxis aufschlagen. Laut Robert Koch-Institut (RKI) benötigen etwa 40 Prozent der in der Klinik behandelten Patienten längerfristig Unterstützung.

Nach milder Erkrankung sei rund jeder Zehnte länger als vier Wochen betroffen, über den Verlauf sei jedoch wenig bekannt.

Bestehende gesundheitliche Probleme wie Adipositas könnten verstärkt werden. Einer bundesweiten Befragung des RKI zufolge hat das mittlere Körpergewicht im Zeitraum April bis August 2019 bei 77,1 Kilo gelegen, im gleichen Zeitraum 2020 bei 78,2 Kilo.

Der mittlere BMI stieg laut Studie von 25,9 auf 26,4. Muskuloskelettale Probleme werden aufgrund der nicht ergonomischen Arbeitsplätze in den Homeoffices häufig verstärkt.

“Wir erreichen heute mehr Kollegen als vor der Pandemie”

Dr. Hans-Michael Mühlenfeld, Vorsitzender des Instituts für hausärztliche Fortbildung im Deutschen Hausärzteverband (IHF)

Sowohl zahlreiche Landeshausärzteverbände als auch das IHF haben sehr schnell reagiert und ihr Fortbildungsangebot ins Digitale verlagert. Welche Erkenntnis haben Sie dabei gewonnen?

Ich bin einmal mehr in der Ansicht bestärkt worden, dass wir Dinge ausprobieren müssen, anstatt sie von vornherein zum Scheitern zu verurteilen. Getreu dem Motto: “Nichts ist unmöglich”. Durch unsere zusätzlichen Fortbildungsangebote im Online-Bereich erreichen wir heute mehr Hausärzte als zuvor.

Inwiefern?

Online-Fortbildungsangebote können geografisch unabhängig wahrgenommen werden. Wir erreichen damit Kollegen, die aufgrund ihres Wohnorts nicht zu Präsenzveranstaltungen gekommen wären.

Das hat uns ein Abgleich von Teilnehmerdaten der Werkzeugkasten-Seminare gezeigt, die mittlerweile auch komplett digitalisiert vorliegen. Hier sehen wir, dass wir bei Präsenzkursen einige Interessenten verlieren, denn mehr als eine bis eineinhalb Stunden Fahrtzeit sind ein K.o.-Kriterium. Auch interessant: Der Abgleich hat einen überproportionalen Frauenanteil gezeigt.

Gerade für sie scheint es also eine größere Hürde zu sein, zu Fortbildungen anzureisen, wenn beispielsweise die Kinder im Bett liegen.

In vielen Bereichen – Stichwort Hautkrebsscreening – konnte die Fortbildung zu fast 100 Prozent ins Digitale verlagert werden. Wie haben Sie das geschafft?

Hier kamen beim IHF zwei Faktoren zusammen: Die Infrastruktur mit unserem Partner Univiva stand bereits vor Beginn der Pandemie, sie musste nur noch mit Leben gefüllt werden. Und unser Digitalexperte Raphael Lupp hat das engagiert angepackt.

Was bedeutet das für die Zukunft? Werden Online-Angebote nach der Pandemie bestehen bleiben?

Auf jeden Fall! Es wird künftig ganz regelhaft ein Nebeneinander von Präsenz- und Online-Veranstaltungen geben. Damit erreichen wir auch unterschiedliche Lerntypen.

Gleichzeitig gibt es Sachen, die wird man auch in Zukunft nicht digitalisieren können: VERAH® kompakt etwa oder den persönlichen Austausch am Rande von Seminaren.

Gesetzesflut mit neuem Tempo

Seinen Spitznamen hatte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) schnell weg: “Minister Fleißig” nannten ihn Medienvertreter nur ein Jahr nach seinem Amtsantritt.

Zur Halbzeitbilanz der Bundesregierung im Herbst 2019 waren sieben Gesetzgebungen zu Gesundheit und Pflege abgeschlossen, 14 weitere angestoßen (www.hausarzt.link/i432m).

Das Tempo war von Anfang an hoch – doch hätte wohl keiner gedacht, dass es, angetrieben von einem bis dato unbekannten Virus, noch steigen kann.

Am 12. Februar 2020 sprach Spahn erstmals im Bundestag zur “Strategie zur Vorbeugung gegen das Coronavirus in Deutschland”. Fünf Gesetze und mehr als 30 Verordnungen bzw. Änderungen an bestehenden Verordnungen folgten bis zum Jahreswechsel, also in nur rund zehn Monaten. Rekordhalter: die Testverordnung mit fünf Überarbeitungen seit dem ersten Inkrafttreten am 14. Mai.

Hausarztpraxen stellte dieses neue Tempo, flankiert von immer neuen Abrechnungsregeln, vor Herausforderungen: Denn neben der Patientenversorgung galt es, oft “über Nacht” in Kraft tretende Änderungen im Blick zu halten. Dass wichtige Änderungen nicht selten freitagnachmittags verkündet wurden und am Montagmorgen in Kraft traten, erschwerte dies erheblich.

Der Deutsche Hausärzteverband hat diese Hürden im Praxisalltag, aber auch die Leistung der Hausärztinnen und Hausärzte gegenüber Politik und Medien immer wieder hervorgehoben. In mehr als zehn Stellungnahmen wurde darüber hinaus die hausärztliche Sicht auf Themen wie Digitalisierung, Palliativversorgung, aber natürlich auch Corona eingebracht. Dadurch konnten zahlreiche unpraktikable Regelungen wieder abgewendet werden.

Es ist davon auszugehen, dass das Tempo vor der Bundestagswahl im September 2021 nicht mehr abnehmen wird. Dabei zeichnen sich schon heute Themen für die neue Legislaturperiode ab: Die Notfallversorgung etwa, lange als eines der wichtigsten Themen Spahns angesehen, musste sich bei der Corona-Gesetzgebung “hinten anstellen”.

PODCAST

“Der Hausarzt” hat mit Hausärztinnen und Hausärzten gesprochen, wie sie die Pandemie im Frühjahr wahrgenommen haben: www.hausarzt.digital/podcast

Unterstützung im neuen Praxisalltag

“Der Hausarzt” hat gemeinsam mit dem IHF seit Beginn der Corona-Pandemie fast 40 Praxishilfen zum kostenfreien Download entwickelt – von Musterformularen über Checklisten bis hin zu Patienteninfos: www.hausarzt.digital/covid19

Um Hausarztpraxen auch in der überbordenden Verordnungsflut zu unterstützen, informiert der Newsletter über aktuelle Änderungen – auch wenn diese noch am Freitagnachmittag eintreffen: www.hausarzt.digital/newsletter

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