© Hausärzteverband Hamburg e.V. Dr. Jana Husemann
Termin- statt offener Sprechzeit
Besonders deutlich wird das bei der Praxisorganisation. Wir waren bis letztes Jahr eine Praxis, in die man einfach reinkommen konnte, wann man wollte. Das Wartezimmer und nicht selten der Vorplatz vor der Praxis waren immer voll, Rezepte wurden mal schnell “nebenbei” abgeholt. Schon länger habe ich mit dem Gedanken gespielt, auf eine Terminsprechstunde umzustellen. Die Pandemie hat mich letztlich gezwungen: Wir haben von einem Tag auf den anderen eine Infektsprechstunde eingerichtet, ebenso feste Abholzeiten für Rezepte. Die Praxistür ist seitdem verschlossen, die Patienten können die Praxis nur nach Klingeln einzeln betreten. Auch Akutpatienten bekommen einen festen Termin innerhalb des Tages. Haben zuvor zwölf Stühle im Wartezimmer oft nicht gereicht, sind heute nur noch vier Stühle vorhanden – und selbst diese meist nicht besetzt.
Patienten tragen Neuerungen mit
Für mich als Hausärztin bedeutet das eine bessere Planbarkeit und größere Ruhe im Alltag. Und das werde ich auch nach der Pandemie nicht missen wollen: Ob ich die Infektsprechstunde beibehalten werde, weiß ich zwar noch nicht, die Organisation als feste Terminsprechstunde bleibt in jedem Fall. Auch bei vielen Kolleginnen und Kollegen dürften solche Umstrukturierungen als “neues Normal” verbleiben.
In der Vergangenheit hatte ich durchaus Sorge, ob die Patientinnen und Patienten eine solche Veränderung akzeptieren würden. Heute zeigen mir zahlreiche positive Rückmeldungen: Auch sie schätzen die deutlich besser organisierte Sprechstunde und gute Planbarkeit.
Was jedoch weniger nachhaltig bleiben wird: die große Dankbarkeit, die mir im Frühjahr entgegengeschlagen ist. Sie weicht mehr und mehr einer “Corona-Müdigkeit”. Das ist schade. Ich hätte mir gewünscht, dass in der öffentlichen Wahrnehmung Verständnis und Wertschätzung für unsere Arbeit und die der medizinischen Fachangestellten (MFA) bleiben.
Deutlich mehr als zuvor beraten wir über das Telefon. Gerade die Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigung (AU) per Telefon, die bislang ja nur temporär aufgrund der Pandemie gestattet ist, wird von unseren Patientinnen und Patienten gut angenommen. Das zeigt mir, dass die Telefon-AU beide Seiten auch dauerhaft gut entlasten könnte und es daher gut und wichtig ist, dass sich der Deutsche Hausärzteverband auch für die Pandemie-unabhängige Möglichkeit der Telefon-AU einsetzt. Sie wäre für uns Ärzte ja kein Muss, sondern nur eine weitere Option im Alltag.
Persönlicher Kontakt unersetzbar
Die “Beschleunigung” durch Corona zeigt sich auch mit Blick aufs Digitale: Wir haben beispielsweise einen Anrufbeantworter mit Künstlicher Intelligenz (KI) installiert. Dieser leitet Patientinnen und Patienten sprachgesteuert durch ein Programm – Terminanfrage, Rezept, andere Anliegen. Die Anrufer fühlen sich damit sofort “wahrgenommen”, und meinen MFA hilft es beim Vorsortieren der Anliegen. Ob wir eine solche Einführung ohne Corona so schnell gemacht hätten? Das weiß ich nicht.
In einem anderen Bereich hingegen unterstreicht die Corona-Pandemie, was vermutlich immer so bleiben wird: Der persönliche Kontakt zwischen uns Hausärzten und unseren Patienten ist unersetzbar – und mindestens so gefragt wie in Nicht-Pandemie-Zeiten. Die Videosprechstunde etwa bieten wir an, sie wird aber schlichtweg nicht angenommen. Und das, obwohl meine Praxis in Hamburg als Stadtpraxis einen vergleichsweise jungen und damit doch vermeintlich an digitalen Angeboten interessierten Patientenstamm hat. Mir zeigt das, dass der persönliche Kontakt wichtig ist und Video dafür keinen Ersatz bieten kann.
“Online-Terminvergabe und Messengerdienst haben sich bewährt”
Jens Wagenknecht, Hausarzt in Varel und 1. stellvertretender Vorsitzender des Hausärzteverbands Niedersachsen
(Foto: A. Tamme/tonwert21)
Wir haben alle “offenen” Anteile unserer Sprechzeit auf eine Terminvergabe umgestellt. Für die Blutentnahme etwa konnten Patienten zwischen 8 und 9.30 Uhr einfach vorbeischauen.
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Seit Beginn der Pandemie ist auch das nur noch per Terminvergabe möglich. Das Ergebnis: geringerer Stress für meine Mitarbeiterinnen, kürzere Wartezeiten dank leerem Wartezimmer.
Deutlich zugenommen hat in dieser Zeit die Online- Terminvergabe. Diese hatten wir zwar schon vor der Pandemie, jedoch nie so proaktiv beworben. Mittlerweile werden fünf bis zehn Termine pro Tag auf diesem Weg gebucht.
Das wird auch nach der Pandemie sicher so bleiben, denn das System hat sich bewährt.
Auch unser Messengerdienst gewinnt an Bedeutung: Beliebt war er schon vorher, doch als “Nebeneffekt” der Pandemie hat das noch einmal zugenommen. Wir nutzen den Messenger unseres Praxisverwaltungssystems.
Vor allem für Folgerezepte ist das attraktiv: Patienten ordern es über ihr Handy, aus dem bestehenden Medikationsplan heraus. Das ist komfortabler als die Bestellung über Anrufbeantworter oder Homepage, wo die Daten jedes Mal aufs Neue manuell eingegeben werden müssen.
Auch in der Praxis erleichtert es die weitere Arbeit. Das wird übrigens auch von Älteren gut angenommen, bis hin zu einem 87-jährigen Patienten! Das finde ich immer wieder erstaunlich.
Insgesamt lässt sich sagen, dass alle digitalen Angebote – bis auf die Videosprechstunde – über alle Altersklassen extrem gut angenommen werden. Die Videosprechstunde bieten wir erst seit der Corona-Pandemie an.
Aktiv nachgefragt wird sie von Patienten bis heute nicht. Auch für uns als Praxis ist das Angebot schwer zu platzieren. Denn die Videosprechstunde den “passenden” Patienten anzubieten, erfordert im Team durchaus Erfahrung.
Neue Beratungsanlässe kommen in die Praxis
Angststörungen und Depressionen betreffen häufig nicht mehr nur bekannte Patienten mit solchen Diagnosen, die unter den Corona-Beschränkungen besonders leiden.
Auch bislang “unauffällige” Patienten haben, etwa nach Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit, mitunter entsprechende Symptome, wie zahlreiche Hausarztpraxen gegenüber “Der Hausarzt” berichten. Hinzu kommen “Randthemen” wie Kinderbetreuung oder Überforderung durch Homeoffice plus Homeschooling bei weniger sozialen Kontakten.
Das Krankheitsbild “Long Covid”, also Spätsymptome einer durchgemachten COVID-19-Erkrankung, ist bislang eher in Post-Covid-Ambulanzen als in Hausarztpraxen Thema.
Die Spätsymptome sind zum Teil unspezifisch und derzeit noch schwer in Bezug auf bleibende Schäden zu beurteilen. Jedoch beschäftigen sich viele Studien damit; perspektivisch könnte es als Beratungsanlass verstärkt in der Hausarztpraxis aufschlagen. Laut Robert Koch-Institut (RKI) benötigen etwa 40 Prozent der in der Klinik behandelten Patienten längerfristig Unterstützung.
Nach milder Erkrankung sei rund jeder Zehnte länger als vier Wochen betroffen, über den Verlauf sei jedoch wenig bekannt.
Bestehende gesundheitliche Probleme wie Adipositas könnten verstärkt werden. Einer bundesweiten Befragung des RKI zufolge hat das mittlere Körpergewicht im Zeitraum April bis August 2019 bei 77,1 Kilo gelegen, im gleichen Zeitraum 2020 bei 78,2 Kilo.
Der mittlere BMI stieg laut Studie von 25,9 auf 26,4. Muskuloskelettale Probleme werden aufgrund der nicht ergonomischen Arbeitsplätze in den Homeoffices häufig verstärkt.
“Wir erreichen heute mehr Kollegen als vor der Pandemie”
Dr. Hans-Michael Mühlenfeld, Vorsitzender des Instituts für hausärztliche Fortbildung im Deutschen Hausärzteverband (IHF)
Sowohl zahlreiche Landeshausärzteverbände als auch das IHF haben sehr schnell reagiert und ihr Fortbildungsangebot ins Digitale verlagert. Welche Erkenntnis haben Sie dabei gewonnen?
Ich bin einmal mehr in der Ansicht bestärkt worden, dass wir Dinge ausprobieren müssen, anstatt sie von vornherein zum Scheitern zu verurteilen. Getreu dem Motto: “Nichts ist unmöglich”. Durch unsere zusätzlichen Fortbildungsangebote im Online-Bereich erreichen wir heute mehr Hausärzte als zuvor.
© privat Dr. Hans-M. Mühlenfeld
Inwiefern?
Online-Fortbildungsangebote können geografisch unabhängig wahrgenommen werden. Wir erreichen damit Kollegen, die aufgrund ihres Wohnorts nicht zu Präsenzveranstaltungen gekommen wären.
Das hat uns ein Abgleich von Teilnehmerdaten der Werkzeugkasten-Seminare gezeigt, die mittlerweile auch komplett digitalisiert vorliegen. Hier sehen wir, dass wir bei Präsenzkursen einige Interessenten verlieren, denn mehr als eine bis eineinhalb Stunden Fahrtzeit sind ein K.o.-Kriterium. Auch interessant: Der Abgleich hat einen überproportionalen Frauenanteil gezeigt.
Gerade für sie scheint es also eine größere Hürde zu sein, zu Fortbildungen anzureisen, wenn beispielsweise die Kinder im Bett liegen.
In vielen Bereichen – Stichwort Hautkrebsscreening – konnte die Fortbildung zu fast 100 Prozent ins Digitale verlagert werden. Wie haben Sie das geschafft?
Hier kamen beim IHF zwei Faktoren zusammen: Die Infrastruktur mit unserem Partner Univiva stand bereits vor Beginn der Pandemie, sie musste nur noch mit Leben gefüllt werden. Und unser Digitalexperte Raphael Lupp hat das engagiert angepackt.
Was bedeutet das für die Zukunft? Werden Online-Angebote nach der Pandemie bestehen bleiben?
Auf jeden Fall! Es wird künftig ganz regelhaft ein Nebeneinander von Präsenz- und Online-Veranstaltungen geben. Damit erreichen wir auch unterschiedliche Lerntypen.
Gleichzeitig gibt es Sachen, die wird man auch in Zukunft nicht digitalisieren können: VERAH® kompakt etwa oder den persönlichen Austausch am Rande von Seminaren.
“Immer wieder kurzfristig veränderte Vorgaben haben das gesamte Team frustriert”
Dr. Ulf Zitterbart, Hausarzt in Kranichfeld und Vorsitzender des Hausärzteverbands Thüringen
(Foto: G. Lopata/axentis.de)
Die immer wieder veränderten Vorgaben rund um die Abrechnung von Corona-Verdachtsfällen haben uns die Arbeit im vergangenen Jahr erheblich erschwert.
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Unsere Kassenärztliche Vereinigung (KV) ist in vielen Bereichen zwar schnell tätig geworden: Noch vor Ostern hatten wir in Thüringen – im Gegensatz zu beinahe allen anderen Regionen – Schutzausrüstung, und auch die Abstrichzentren waren schnell aufgebaut, inklusive Vergütung nach geleisteten Stunden.
Doch die Abrechnungsziffern für die Abstriche in der Praxis ließen auf sich warten. Wir haben die ersten Abstriche also erst einmal “blind” gemacht und gehofft, dass sie bezahlt werden.
Dass neue Abrechnungsziffern erst einmal ihre Zeit brauchen, kann ich verstehen – immerhin war die Situation für alle, auch für die Verantwortlichen in Berlin, neu.
Dass Politik und Selbstverwaltung die einmal getroffenen Vorgaben aber immer wieder so kurzfristig verändern, geht gar nicht! Nicht selten musste ich kurz vor dem Quartalsende noch einmal alle betroffenen Fälle im System öffnen und anders kennzeichnen.
Vor allem beim Personal haben die immer wieder neuen bürokratischen Vorgaben für immensen Frust gesorgt. Das ist schade und wäre vermeidbar gewesen. Gleiches gilt auch für die nicht immer gelungene Zusammenarbeit der Gesundheitsämter mit uns Praxen.
Mittlerweile wissen wir zumindest, wie wir so informiert bleiben, dass uns keine Neuerung durchrutscht. Die Internetseiten anderer Hausärzteverbände, beispielsweise des Bayerischen, waren uns dabei oft eine gute Quelle.
Gesetzesflut mit neuem Tempo
Seinen Spitznamen hatte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) schnell weg: “Minister Fleißig” nannten ihn Medienvertreter nur ein Jahr nach seinem Amtsantritt.
Zur Halbzeitbilanz der Bundesregierung im Herbst 2019 waren sieben Gesetzgebungen zu Gesundheit und Pflege abgeschlossen, 14 weitere angestoßen (www.hausarzt.link/i432m ).
Das Tempo war von Anfang an hoch – doch hätte wohl keiner gedacht, dass es, angetrieben von einem bis dato unbekannten Virus, noch steigen kann.
Am 12. Februar 2020 sprach Spahn erstmals im Bundestag zur “Strategie zur Vorbeugung gegen das Coronavirus in Deutschland”. Fünf Gesetze und mehr als 30 Verordnungen bzw. Änderungen an bestehenden Verordnungen folgten bis zum Jahreswechsel, also in nur rund zehn Monaten. Rekordhalter: die Testverordnung mit fünf Überarbeitungen seit dem ersten Inkrafttreten am 14. Mai.
Hausarztpraxen stellte dieses neue Tempo, flankiert von immer neuen Abrechnungsregeln, vor Herausforderungen: Denn neben der Patientenversorgung galt es, oft “über Nacht” in Kraft tretende Änderungen im Blick zu halten. Dass wichtige Änderungen nicht selten freitagnachmittags verkündet wurden und am Montagmorgen in Kraft traten, erschwerte dies erheblich.
Der Deutsche Hausärzteverband hat diese Hürden im Praxisalltag, aber auch die Leistung der Hausärztinnen und Hausärzte gegenüber Politik und Medien immer wieder hervorgehoben. In mehr als zehn Stellungnahmen wurde darüber hinaus die hausärztliche Sicht auf Themen wie Digitalisierung, Palliativversorgung, aber natürlich auch Corona eingebracht. Dadurch konnten zahlreiche unpraktikable Regelungen wieder abgewendet werden.
Es ist davon auszugehen, dass das Tempo vor der Bundestagswahl im September 2021 nicht mehr abnehmen wird. Dabei zeichnen sich schon heute Themen für die neue Legislaturperiode ab: Die Notfallversorgung etwa, lange als eines der wichtigsten Themen Spahns angesehen, musste sich bei der Corona-Gesetzgebung “hinten anstellen”.
PODCAST
“Der Hausarzt” hat mit Hausärztinnen und Hausärzten gesprochen, wie sie die Pandemie im Frühjahr wahrgenommen haben: www.hausarzt.digital/podcast
Unterstützung im neuen Praxisalltag
“Der Hausarzt” hat gemeinsam mit dem IHF seit Beginn der Corona-Pandemie fast 40 Praxishilfen zum kostenfreien Download entwickelt – von Musterformularen über Checklisten bis hin zu Patienteninfos: www.hausarzt.digital/covid19
Um Hausarztpraxen auch in der überbordenden Verordnungsflut zu unterstützen, informiert der Newsletter über aktuelle Änderungen – auch wenn diese noch am Freitagnachmittag eintreffen: www.hausarzt.digital/newsletter