Essen. Bürokratie, Vorgaben von Gesetzgeber und Gemeinsamem Bundesausschuss (G-BA) und mitunter ökonomische Zwänge: Ärztinnen und Ärzte sind in ihrem Handeln nicht immer frei – und die Entwicklung spitzt sich zu. Wichtig sei daher, die Grenze zwischen Staat und Selbstverwaltung nicht weiter aufzuweichen, sondern die Freiheit der ärztlichen Profession weiter zu achten und zu stärken. Darin waren sich Referenten und Delegierte beim Deutschen Ärztetag in Essen einig.
Dem Thema „Freiheit und Verantwortung in der ärztlichen Profession“ haben die rund 250 Delegierten am Mittwoch (17. Mai) einen eigenen Tagesordnungspunkt gewidmet. Bundesverfassungsrichter Peter Müller hielt dazu einen von den Delegierten als „Credo für mehr ärztliche Selbstverwaltung“ gelobten Vortrag, abschließend wurde nach ausführlicher Aussprache eine entsprechende Essener Resolution verabschiedet.
“Unzureichende finanzielle und personelle Ressourcen, eine zunehmende Kommerzialisierung, staatsdirigistische Eingriffe in die Selbstverwaltung sowie eine überbordende Kontrollbürokratie führen derzeit zu enormer Arbeitsverdichtung und vielfach auch Überlastung der Berufe im Gesundheitswesen”, heißt es darin. “Eine medizinische Versorgung auf hohem Niveau für eine sich im demografischen Wandel befindende Gesellschaft ist unter diesen Voraussetzungen auf Dauer nicht zu gewährleisten.”
Umso wichtiger sei der “frühzeitige Einbezug des ärztlichen Sachverstandes in alle gesundheitspolitischen Reformvorhaben”. In seiner Eröffnungsrede hatte Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK) am Vortag angemahnt, dass dies aktuell nicht geschehe.
Verfassungsrichter: “Ärztesitz” im G-BA
Zwar besäßen Bundesärztekammer (BÄK) – die ja nicht einmal eine Körperschaft öffentlichen Rechts ist – und vergleichbare Einrichtungen im Gegensatz zu Parlamentariern zwar kein verfassungspolitisches Anrecht darauf, aus politischen und Akzeptanzgründen jedoch sollten sie in gesundheitspolitischer Gesetzgebung durchaus beteiligt und gehört werden, plädierte Müller. Der Richter des Zweiten Senats am Bundesverfassungsgericht schlug dafür sogar eine feste Verankerung im G-BA vor.
Man müsse weg von dem „staatlichen Regelungsanspruch“ hin zu mehr Selbstverwaltung, so sein Plädoyer. Zivilgesellschaft einzubinden, sei eine „Qualitätssicherung“ für die Gesetzgebung.
Den – mitunter symbolhaften – Regelungszwang verbildlichte er anhand des 2015 eingeführten Paragrafen 299a StGB (Bestechlichkeit im Gesundheitswesen). Dies impliziere, dass unter Ärztinnen und Ärzten besonderer Regelungsbedarf geherrscht habe. „Ich halte das für ein falsches Signal“, so Müller. Im Zuge seiner Ankündigung, das Strafrecht zu entrümpeln, könnte Justizminister Dr. Marco Buschmann (FDP) hier ansetzen.
Überregulierung schreckt Nachwuchs ab
„Es gibt keinen Grund, die Grenze zwischen Staat und Selbstverwaltung neu zu definieren – oder sogar sehenden Auges zu überschreiten“, unterstrich auch BÄK-Vizepräsident Dr. Günther Matheis.
Müllers Vortrag wurde von den Delegierten sehr gelobt. Überregulierung und Bürokratie schreckten nicht zuletzt ärztlichen Nachwuchs für die Niederlassung ab, unterstrichen viele Abgeordnete.
Die Freiberuflichkeit – die, wie Müller betonte, in Praxen und Kliniken gleichermaßen gelte – ist ein hohes Gut. In kurzen eingespielten Videos wurden potenzielle Gefahren gezeigt, unter anderem ökonomische Zwänge – die laut einer Umfrage unter Ärztinnen und Ärzten in Weiterbildung (ÄiW) des Hartmannbundes 2021 47 Prozent in der täglichen Arbeit spürten – sowie Künstliche Intelligenz (KI).
Eine anschließende spontane Umfrage unter den Delegierten – ein neues, interaktives Format, das der Deutsche Ärztetag in diesem Jahr erstmals testete – zeigte: Während sich die Abgeordneten unisono gegen die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens stemmen und hier die Haltung unter anderem des Deutschen Hausärzteverbandes stützen, sehen die Abgeordneten KI Stand heute nicht als ernsthafte Gefahr.
KI? Vorher muss Digitalisierung funktionieren!
Denn vor dem Gebrauch von KI sei eine funktionierende Digitalisierung der erste Schritt – der noch immer in vielen Bereichen fehle. So berichtete in der Spontanumfrage ein niedergelassener Arzt, dass er 15 E-Arztbriefe am Tag versende, zwei erhalte – jedoch noch nie aus dem stationären Bereich. Das Problem: Praxisverwaltungssoftware (PVS) und Kliniksoftware seien nicht interoperabel.
Der neben ihm sitzende Klinikkollege stützte das. “Wir sind noch immer in den Anfangsschritten. Wir sind weit hinter den Möglichkeiten, die es gibt.”
Auch Doreen Seilmann, die sich “ganz frisch” niedergelassen hat, sieht die Dokumentation als wichtiges Element ihrer Freiberuflichkeit – die aber von Zwängen von außen dominiert wird. Mit der Umstellung ihres PVS als erste Amtshandlung in der eigenen Praxis hat sie gemerkt: “Ich brauche eine gute Dokumentation – aber es muss so funktionieren, dass ich auf einen Blick alle Infos habe und beim Verfassen eines Arztbriefes nicht doppelt Arbeit entsteht.”
Dass die Dokumentation Zeichen seiner Freiberuflichkeit ist, untermauert der seit 40 Jahren niedergelassene Allgemeinmediziner Dr. Lothar Rütz anhand einer Metapher: “Die Patienten liefern mir die Farbe und ich male das Bild – das danach in einen Tresor kommt“. Seine Sorge: In der analogen Welt sei der Umgang mit diesem kostbaren “Bild” streng geregelt, unter anderem durch die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO). “Doch wie wird das künftig in der digitalen Welt funktionieren?” Doppelt dokumentieren zu müssen wäre für ihn der “Worst Case”.
Druck in der Niederlassung weniger deutlich
Insgesamt zeigen die Gespräche mit den Delegierten: Im Klinikbetrieb ist der ökonomische Druck bereits deutlicher zu spüren als im ambulanten Bereich.
Dr. Anja Feld beispielsweise, Hausärztin im Saarland, beobachtet, dass das Krankenhauswesen bereits “sehr stark kommerzialisiert” sei. Als Landärztin spüre sie dies vor allem an der Sektorengrenze: Einweisungen von 85-Jährigen mit Begleiterkrankungen würden mitunter abgewiesen. “Das könne doch ambulant eingestellt werden, wird mir dann gesagt – weil es für die Klinik einfach nicht lohnend ist.”
Die Gewinnorientierung aus dem Gesundheitswesen gänzlich zu verbannen, ist für BÄK-Präsident Dr. Klaus Reinhardt unterdessen weder machbar noch praktikabel. Auch jeder Praxisinhaber müsse von seiner Arbeit leben können und ein gutes Auskommen haben, stellte er auf Nachfrage klar. Es gehe jedoch darum, mit Rahmenbedingungen – etwa Marktanteilen für (i)MVZ – Renditen auf marktübliche Gewinnspannen herunterzuregulieren. “Damit wird sich die Entwicklung in vielen Bereichen ganz automatisch entspannen.”
Vizepräsidentin Dr. Ellen Lundershausen erinnerte in diesem Zuge an die zentrale Größe der Gemeinwohlorientierung. Darüber hinaus plädierte sie an jeden einzelnen Kollegen: “Man braucht Vorbilder, und wir sind die Vorbilder – ein jeder dort, wo er arbeitet – um den jungen Kolleginnen und Kollegen vorzuleben, wie man die Freiberuflichkeit auch unter erschwerten Bedingungen mit Leben füllen kann.“