Die Nerven der Darmwand von Patienten mit Reizdarm reagieren kaum auf einen Entzündungscocktail, wie Forscher der Technischen Universität München (TUM) anhand von Biopsien entdeckt haben. Dies widerlegt die bisherige These, Reizdarmpatienten hätten einen besonders sensiblen und leicht reizbaren Darm.
Beim Reizdarmsyndrom handelt es sich um eine organische Erkrankung. Die vielfältigen Ursachen sind aber mit heutigen Messmethoden im Praxisalltag noch nicht nachweisbar. Eine Studie in „Frontiers in Neuroscience“ (doi: 10.3389/fnins.2015.00465) belegt erstmals, dass es zu messbaren Veränderungen an den Nerven der Darmwand von Reizdarmpatienten kommt, teilt die TUM mit. „Eine mögliche Ursache der Symptome bei einer Gruppe von Reizdarmpatienten ist eine erhöhte Ausschüttung von Botenstoffen“, sagt Prof. Michael Schemann von der TUM, „die unter anderem bei entzündlichen Prozessen eine Rolle spielen.“ Basierend auf früheren, eigenen Studien postulierten die Forscher daher eine Sensibilisierung der Nerven in der Darmwand von Reizdarmpatienten. Die Forscher haben deshalb die Reaktion an Biopsien von Reizdarmpatienten sowie gesunden Probanden einerseits auf elektrische Stimulation sowie auf Nikotin überprüft. Beides sind etablierte Methoden, um die Ansprechbarkeit der Darmnerven zu testen: Elektrische Stimulation führt zur synaptischen Übertragung, Nikotin aktiviert direkt die Darmnerven. Erstaunlicherweise reagierten bei diesen Tests die Nerven beider Gruppen vergleichbar, so dass eine generelle Nervensensibilisierung ausgeschlossen werden kann.
Andererseits wurde ein Entzündungscocktail mit Histamin, Proteasen, Serotonin und TNF-alpha verabreicht, um das Milieu in der Darmwand der Reizdarmpatienten zu simulieren und die Reaktion darauf zu untersuchen. „Genau das Gegenteil unserer anfänglichen Vermutung war der Fall: Die Nerven der Reizdarmpatienten haben signifikant schwächer auf die von uns verabreichten Cocktails reagiert als die Biopsien der gesunden Probanden“, sagt Schemann. „Die Darmwand dieser Patienten ist offenbar desensibilisiert durch eine ursprünglich zu starke Aktivierung. Das kann eine Schutzmaßnahme sein, um eine Überreizung zu vermeiden.“
Um dies zu verifizieren, wurden Darmnerven für mehrere Stunden einer Reizung ausgesetzt. Das Ergebnis: „Sind die Nerven die ganze Zeit gereizt, regeln sie die Reaktion quasi herunter“, erklärt Schemann. „Es bleibt offen, wie die beobachtete Desensibilisierung der Nerven auf ganz bestimmte Botenstoffe die eigentlichen Symptome verursacht und ob dieses Phänomen neue Therapieoptionen eröffnet“. Die Untersuchungen beweisen zwar eine verminderte Reaktion auf einen Entzündungscocktail, schließen aber eine Sensibilisierung durch andere Stoffe nicht aus.