kurz + knappLeserbriefe

Kritisch bewerten, aber nicht verfälschen

Betreff: "Zu viel des Guten", HA 1, 20.1.17, S. 30

Der Beitrag (…) ist m.E. diskussionswürdig, in einem Punkt jedoch nicht: Die Schlaganfallrate nach Carotisverschluss, der sich bei hochgradiger Stenose bei 1,4 Prozent der Patienten p.a. ereignet, liegt ausweislich der jüngsten prospektiv randomisierten ACST-1 Studie an 2.707 Patienten mit hochgradiger bis dato asymptomatischer Carotisstenose bei 13,6 Prozent zum Zeitpunkt des Carotisverschlusses bei einem konservativen Therapieversuch [Stroke 2013,44:1652-9].

Auch die Schlaganfallrate nach einem Carotisverschluss ist im Weiteren deutlich höher und erreicht 17.0 Prozent (95% CI, 11.6–22.4) bzw. 20.8 Prozent (95%CI, 14.1–26.2) nach fünf und zehn Jahren (p<0.001). Das Verschlussrisiko steigt mit dem Stenosegrad (>80 Prozent), kann aber durch eine Operation effizient gesenkt werden. Bei der Literaturstelle, auf die sich Kollege Kühlein bezieht, handelt es sich demgegenüber um eine monozentrische, extern nicht evaluierte und retrospektive Untersuchung, die zahlreiche Limitationen aufweist [JAMA Neurol. doi:10.1001/jamaneurol. 2015.1843]. Sicherlich ist das epidemiologische Schlaganfallrisiko aufgrund einer asymptomatischen Carotisstenose in den letzten Jahrzehnten gesunken.

Das zitierte Risiko von nur 0,3 Prozent zum Zeitpunkt des Verschlusses einer Spezialeinrichtung in Ontario, das auch von den dortigen Kollegen nach Alter, Geschlecht und Plaquelast differenziert wird, ist aber auch heute sicherlich nicht ohne weiteres übertragbar auf die Einzelfallentscheidung vor Ort. Ein forensisches Risiko der Therapieentscheidung bleibt bei aller Aufklärung – und auch bei ausführlicher Dokumentation derselben, es ändert sich allenfalls der Risikoträger.

Wohl wie bei wenigen Erkrankungen ist bei der asymptomatischen hochgradigen Carotisstenose das Spannungsfeld, das sich aus dem Abgleich von Studiendaten mit den Erfordernissen einer individuellen Therapieentscheidung ergibt, so auf den Punkt gebracht.

Ängste des Patienten sind führbar, aber letztlich irrational und nicht immer mit Studiendaten wegzudiskutieren. Ohnehin war das Befinden von Patienten mit und ohne Operation einer hochgradigen asymptomatischen Stenose bisher noch nicht Gegenstand einer wissenschaftlichen Evaluierung.

Richtig: Studiendaten kritisch bewerten, aber auch die Kriterien der Wertigkeit berücksichtigen und nicht durch Halbierung der Wahrheit das Ganze verfälschen.

Prof. Richard Brandl, München

Wider die Kontrollmedizin

Antwort Prof. Thomas Kühlein

Vielen Dank an Herrn Kollegen Brandl für seinen (…) differenzierten Leserbrief. Genau dies ist die Art von Diskussion, die ich mir wünschen würde, die aber leider nicht oder zu wenig stattfindet. Sie findet nicht statt, weil die wenigsten Ärzte gelernt haben, Studien zu lesen. Als Hochschullehrer stelle ich fest, dass sie es auch weiterhin nicht lernen.

Gerne will ich zugestehen, dass ich mich der polemischen Verkürzung schuldig gemacht habe. Ich habe inzwischen ein wenig Erfahrung im Schreiben gegen „zu viel Medizin“ und habe festgestellt, dass ohne Polemik – außer einem beifälligen Nicken – kaum je ein Widerspruch oder gar Diskussion zu bekommen ist.

Ich möchte hier nicht gerne in eine spezialistische Diskussion um Zahlen aus verschiedenen Studien mit unterschiedlicher Qualität einsteigen (obwohl das spannend ist!), sondern noch einmal auf ein grundsätzliches Problem hinweisen: Der Mensch ist sterblich.

Die Universität Oxford stellt auf ihrer Webseite „Understanding Uncertainty“ eine Kurve mit dem Titel „The force of mortality“ („Die Kraft der Sterblichkeit“) zur Verfügung [(https://understandinguncertainty. org/lifespans)](https://understandinguncertainty. org/lifespans). Dort lässt sich ablesen, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, seinen nächsten Geburtstag nicht mehr zu erleben. Mein Patient war zum geschilderten Zeitpunkt 76 Jahre alt. Seine Wahrscheinlichkeit, seinen 77. Geburtstag nicht mehr zu erleben, lag nach dieser Kurve bei 4,7 Prozent. Dabei handelt es sich natürlich nur um eine Art Grundrauschen der Sterblichkeit über alle Menschen (in westlichen Industrienationen) hinweg.

Angenommen, die Schlaganfallrate von 20 Prozent über zehn Jahre nach Carotisverschluss in der von Kollegen Brandl angegebenen Studie wäre korrekt und wäre gleichmäßig über diese zehn Jahre verteilt, dann würde dies eine jährliche Schlaganfallrate von zwei Prozent bedeuten. Das wäre für meinen Patienten weniger als die Hälfte der Wahrscheinlichkeit, seinen nächsten Geburtstag nicht mehr zu erleben. Hinzu kommt, dass seine Wahrscheinlichkeit zu sterben, mit jedem Jahr exponentiell zunimmt. Die Patienten in der von Kollegen Brandl zitierten Studie hatten zu mehr als einem Drittel bereits kardiovaskuläre Ereignisse hinter sich und ihre Carotisstenosen waren hochgradig. Beides war bei meinem Patienten nicht der Fall.

Es ist mir sehr wichtig, nicht in dem Sinne missverstanden zu werden, dass es sich bei alten Patienten nicht lohnen würde, überhaupt noch etwas zu tun. Keineswegs! Es ging mir darum, den einzelnen diagnostischen Befund -hier ein nicht wesentlich stenosierender Plaque in der A. Carotis – zu relativieren und eine (freilich polemische) Attacke gegen eine in meiner Wahrnehmung zunehmende technische Kontrollmedizin zu reiten, die – fürchte ich -wesentliche Impulse über verkehrte finanzielle Anreize erfährt und die die logische Folge eines Gesundheitssystems ist, das schon im Studium beginnend, den Generalisten hintan stellt und die Ausbildung zum mündigen auf wissenschaftlicher Basis diskutierenden Arzt sträflich vernachlässigt.

Der einzige Diskussionsbeitrag kam folgerichtig nicht von einem Hausarzt – dafür dennoch und noch einmal vielen Dank.

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