Bereits ab 2004 vereinbarten einzelne Krankenkassen einvernehmlich mit einer Gemeinschaft von hausärztlichen Leistungserbringern eine Hausarztzentrierte Versorgung als Add-on-Vertrag, mit Beteiligung der KV. Damals gab es noch keine in Paragraf 73b SGB V festgelegte Bereinigungsvorschrift. Das Ob und Wie der Anrechnung einer HZV-Zusatzvergütung auf die Gesamtvergütung sollten die Gesamtvertragspartner, also die Krankenkasse und die KV, regeln. Daher wundert es nicht, dass in dieser Zeit nur Add-on-Verträge vereinbart wurden, soweit Krankenkassen überhaupt dazu bereit waren. Erst die zum 1. April 2007 eingeführte neue Vorschrift legte Bereinigungsregelungen für die Jahre 2007, 2008 und 2009 fest.
Damit endete die Periode der ausschließlich als Add-on-Vertrag möglichen HZV-Verträge. Und in der Tat haben zwei Kassen in Deutschland, die AOK Baden-Württemberg 2008 und die AOK Bayern 2009, einvernehmlich mit den dortigen Landeshausärzteverbänden einen HZV-Vollversorgungsvertrag abgeschlossen und ihre Gesamtvergütung an die KVen entsprechend gekürzt. Da es aber 2008 noch keine Regelung über ein Schiedsverfahren gab, hing der Abschluss allein vom Wollen der Kasse ab. Erst mit der neuen gesetzlichen Regelung im Paragraf 73b seit 2009 kann von einem mandatierten Hausärzteverband die Vereinbarung eines Vollversorgungsvertrags in einem Schiedsverfahren beantragt werden. Hierbei ist hervorzuheben, dass in allen bisherigen Schiedsverfahren die Schiedspersonen, anders als es die Krankenkassen wünschten, Vollversorgungsverträge festgesetzt haben.
Angst vor Neuem
Wegen der geschilderten Rechtslage können einzelne Hausärzteverbände weiterhin mit einzelnen Krankenkassen einvernehmlich und unter Beteiligung der KV, HZV-Add-on-Verträge vereinbaren. Die vor 2009 geschlossenen und nach 2009 neu vereinbarten Add-on-Verträge nach Paragraf 73b SGB V sind in einzelnen KV-Regionen keine Seltenheit. Die von einzelnen Hausärzteverbänden auch nach 2009 vereinbarten Add-on-Verträge sind ein Indiz, dass auch sie, ähnlich wie viele Kassen, das Potential von Vollversorgungsverträgen scheuen und vertraglich lieber auf den zwar kritisierten, aber gewohnten Gleisen eines KV-Systems bleiben wollen.
Ihr Vorbehalt gegen einen Vollversorgungsvertrag: Der bürokratische und finanzielle Aufwand für einen an einem Add-on-Vertrag teilnehmenden Hausarzt sei erheblich geringer. Bisher von den Hausärzten gewohnte KV-Abrechnungswege und Abrechnungsweisen könnten in diesem Vertrag beibehalten werden. Zusätzliche Gebührenpositionen würden einfach mit der KV-Abrechnung eingereicht und vergütet. Außerdem fielen keine zusätzlichen Softwarekosten an und neue Verfahrensweisen im Praxisablauf müssten nicht aufwendig und den Praxisablauf störend eingeübt werden.
Dabei wird verkannt, dass dem finanziellen Vorteil für einzelne Leistungen im Add-on-Vertrag der Nachteil gegenüber steht, dass die Mehrzahl der ärztlichen Leistungen wie bisher dem immer wieder beklagten Modus Operandi im KV-System unterliegt: Unklarheit über die Vergütung nach Einreichen der Abrechnung, permanente Änderung von Gebührenordnungspositionen im EBM, Richtgrößenprüfungen, Regressverfahren u. a. bleiben, anders als bei einem Vollversorgungsvertrag, ständiger Wegbegleiter und ständiges Ärgernis für die an einem Add-on-Vertrag teilnehmenden Hausärzte.
Des Weiteren sind diese mit dem größten Teil ihrer Leistungen wie bisher völlig abhängig von den Verhandlungen der KBV mit dem GKV-Spitzenverband und den Vergütungsverhandlungen der KVen mit den Kassen vor Ort. Und nach wie vor haben in den Honorarverteilungsmaßstäben der zumeist facharztdominierten KVen hausärztliche Interessen keine Priorität. Um einer übersehbaren on top Vergütung willen belässt man mit dem Add-on-Vertrag die Auszahlung des weit überwiegenden Teils der ärztlichen Vergütung weiterhin im unberechenbaren KV-System.
Dagegen wird die Vergütung im Vollversorgungsvertrag allein auf die Belange der Hausärzte ausgerichtet, ist unabhängig vom KV-System und so frei von Facharztinteressen. Vom Hausärzteverband wird zusammen mit der Krankenkasse alternativ zum KV-System der Leistungskatalog und die Vergütung festgelegt und fortentwickelt. Die Einsicht nimmt auch bei sonst in Sachen HZV-Verträgen zögerlichen Krankenkassen zu, dass eine von der KV unabhängige hausarztzentrierte Primärversorgung nicht nur den demografischen Anforderungen besser gerecht wird, sondern auch das gesamte Gesundheitssystem aus der bisherigen „organisierten Verantwortungslosigkeit“ (Ferdinand Gerlach) herausführt und die Krankenkassen finanziell nicht überfordert. Der feststellbare Stimmungswandel bei vielen Krankenkassen schlägt sich in einer wachsenden Zahl von einvernehmlich, also ohne Schiedsverfahren, vereinbarten HZV-Vollversorgungsverträgen nieder.
Die Verträge in der Praxis
Nach einem Jahrzehnt sollten zumindest für die schon länger existierenden HZV-Verträge erste Einschätzungen über deren Wirkungsweise möglich sein. Gibt es für einige HZV-Verträge diskutable Evaluationsergebnisse oder auch Befragungen von Teilnehmern und ist ein Ergebnisvergleich zwischen diesen HZV-Verträgen und der hausärztlichen Regelversorgung im KV-System möglich? Erlauben sie einen bewertenden Vergleich zwischen einem Add-on-Vertrag und einem Vollversorgungsvertrag?
Blicken wir auf bisher evaluierte HZV-Verträge (Add-on bzw. Vollversorgung), an denen Versicherte und Hausärzte zum Zeitpunkt der Evaluation in größerer Zahl teilgenommen haben. Im Vergleich zur Zahl bestehender HZV-Verträge sind die evaluierten n einer Hand abzuzählen. Es gab gesetzlich schon immer die Verpflichtung, die durch den HZV-Vertrag bewirkten Mehrausgaben durch Einsparungen auszugleichen. Nach der aktuellen Gesetzgebung muss vier Jahre nach Vertragsbeginn die Wirtschaftlichkeit des Vertrages nachweisbar sein. Doch eine gesetzliche Vorschrift zur Durchführung einer HZV-Evaluation gibt es explizit nicht.
Die gelisteten Ergebnisse lassen mit der gebotenen interpretativen Vorsicht den Schluss zu, dass HZV-Add-on-Verträge in einigen Punkten die in sie gesetzten Erwartungen einer besseren Versorgung gegenüber der Regelversorgung erfüllt haben. Was die Wirtschaftlichkeit von HZV-Add-on-Verträgen angeht, liegt nur für eine Evaluation mehrerer Add-on-Verträge ein Wirtschaftlichkeitsvergleich mit der Regelversorgung vor. Frühere HZV-Add-on-Verträge mit den Ersatzkassen in der Zeit 2005-2008 führten je HZV-Versicherten vergleichsweise zu höheren Leistungsausgaben insgesamt als in der Regelversorgung. Allerdings spricht dieses zeitpunktbezogene Ergebnis nicht per se gegen diese HZV-Add-on-Verträge. Aus dem Befund höherer Ausgaben, zusammen mit festgestellten Verbesserungen der Versorgungsqualität bei diesen Verträgen, lässt sich folgern, dass es einen direkten Zusammenhang gibt. Ob der Umfang der festgestellten Qualitätsverbesserung aber in Relation zu den Mehrausgaben steht, lässt sich nicht beantworten.
Die Evaluation war auf einen zweijährigen Beobachtungszeitraum begrenzt. Die Autoren stellten in ihrem Statement die Vermutung an, dass sich die Wirtschaftlichkeit dieser HZV-Verträge bei entsprechender Justierung in Richtung Vollversorgungsvertrag, in den Folgejahren noch einstellen könnte. Weitere Evaluationen dieser Verträge erledigten sich durch Kündigungen der Krankenkassen.
Bedauerlicherweise lassen die 2014 präsentierten und positiv hervorgehobenen Evaluationsergebnisse des seit 2004 fortgeltenden und damit ältesten HZV-Add-on-Vertrages mit der AOK und IKK gesund plus in Sachsen-Anhalt keine Aussagen über die Wirtschaftlichkeit im Vergleich mit der Regelversorgung zu. Auch die beteiligten Krankenkassen haben sich nicht dazu geäußert. Eine Beurteilung ist somit nicht möglich. Die Evaluation des HZV-Add-on Vertrages der AOK Plus in Thüringen konnte hier nicht mehr berücksicht werden, weil sie nach Abschluss dieses Artikels präsentiert wurde. Die vom Gesundheitsmonitor durchgeführten Befragungen der bundesweit an HZV-Add-on-Verträgen teilnehmenden Patienten bestätigten bei zwei Indikatoren die Erwartungen an eine HZV. Es wurde aber auch entgegen den Erwartungen festgestellt, dass es bei HZV-Versicherten mehr Facharztkontakte gab als in der Regelversorgung.
Und bei HZV-Vollversorgungsverträgen?
Weit mehr Ergebnisse als die Evaluationen von Add-on-Verträgen liefert die mittlerweile schon zweite Evaluation des in 2008 einvernehmlich zwischen AOK Baden-Württemberg, dem dortigen Hausärzteverband und MEDI vereinbarten HZV-Vollversorgungsvertrages. Er führte im Evaluationszeitraum bei nahezu allen dort angeführten Indikatoren im Vergleich zur Regelversorgung zu besseren Ergebnissen, und zwar sowohl bei der Inanspruchnahme, bei der Qualität als auch bei der Zufriedenheit der Ärzte und der HZV-Versicherten (vgl. Tab.1).
Zusätzlich hat die AOK Baden-Württemberg auch Auskunft über die Wirtschaftlichkeit dieses Vertrages gegeben. Die präsentierten Zahlen zeigen, dass die Mehraufwendungen für den HZV-Vollversorgungsvertrag gegenüber der Regelversorgung durch Einsparungen in anderen Ausgabensektoren der Krankenkasse refinanziert werden konnten. Das soziale Unternehmen Krankenkasse ist nach eigenem Selbstverständnis dazu da, mit den Versichertengeldern bzw. den Zuwendungen aus dem Gesundheitsfonds für die bestmögliche Versorgung ihrer Versicherten zu sorgen. Bei einem gegebenen Ausgabenbudget und nachweisbar kostenträchtigen Fehlsteuerungen der Patienten in der Regelversorgung, ermöglicht der HZV-Vollversorgungsvertrag eine Reallokation der Finanzmittel zwischen den Ausgabensektoren bei gleichzeitig steigendem Versorgungsniveau und ohne finanzielle Überforderung der Krankenkasse.
Nach den Erfahrungen mit dem KV-System und seiner durch Interessengegensätze bedingten Reformunfähigkeit priorisierten die Vertragspartner einen von der KV unabhängigen Vollversorgungsvertrag. Der mit dieser Vertragsform sowohl der Kasse als auch den Ärzteverbänden eröffnete Gestaltungsspielraum kann vom KV-System nicht mehr „kontaminiert“ werden. Dieser HZV-Vollversorgungsvertrag, in dem u. a. die intensivere Behandlung und die Lotsen- und Koordinierungsfunktion der Hausärzte eine zentrale Rolle spielen und auch die Vergütungssystematik völlig von den gängigen KV-Regularien abweicht, bildet die Grundlage für den Aufbau einer alternativen hausärztlichen Versorgung und zugleich den Ausgangspunkt für eine Neugestaltung der Kooperation mit anderen fachärztlichen und künftig auch stationären Leistungsbereichen in Abgrenzung zum Regelbetrieb im KV-System. Zusätzlich zu den mittlerweile vorgelegten zwei wissenschaftlichen Evaluationen lässt die HÄVG AG jährlich eine Befragung der an der HZV teilnehmenden Versicherten von prognos durchführen.
Die jährlich veröffentlichten Befragungsergebnisse zeigen, dass die überwiegende Mehrheit der HZV-Patienten immer wieder bestätigt, im Rahmen der Hausarztzentrierten Versorgung besser betreut zu werden als in der Regelversorgung. Die Ergebnisse der vom BKK Landesverband in Baden-Württemberg über 40 BKK in Auftrag gegebenen Evaluationsstudie über die Wirkungen des einvernehmlich zustande gekommenen Vollversorgungsvertrags im Zeitraum zwischen 2009 und dem 1. Halbjahr 2012 wurden Mitte 2013 präsentiert. Bessere Ergebnisse gegenüber der Regelversorgung wurden im Evaluationszeitraum bei der Verhinderung von Rehospitalisierung und geringeren Arztkontakten bei verschiedenen ambulanten Ärzten festgestellt. Insgesamt wird ein weiter steigender positiver Versorgungstrend für die Folgejahre im Rahmen des HZV-Vollversorgungsvertrages prognostiziert.
In Bezug auf die Wirtschaftlichkeit des Vertrages war das Evaluationsergebnis, dass nach einem zweijährigen Beobachtungszeitraum die durchschnittlichen Gesamtleistungsausgaben je HZV-Versicherten im Vergleich zur Regelversorgung niedriger lagen. Und die Studie zeigte ferner, dass im HZV-Vollversorgungsvertrag innerhalb des Betrachtungszeitraums nicht nur die ärztliche Betreuung besser wird, sondern auch die Diagnosequalität insbesondere bei mehrfach chronisch kranken Patienten steigt und dadurch die Kassen höhere Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds erhielten.
Evaluationsstudie
Eine vom BKK Landesverband Baden-Württemberg in Auftrag gegebene Evaluationsstudie über 40 BKK (2009 – 2012) ergab bessere Ergebnisse gegenüber der Regelversorgung :
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Bessere Verhinderung von Rehospitalisierung
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weiter steigender positiver Versorgungstrend
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niedrigere durchschnittliche Gesamtleistungsausgaben je HZV-Versicherten
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höhere Diagnosequalität insbesondere bei mehrfach chronisch kranken Patienten
Fazit
Es ist viel passiert, seit 2004 Hausarztzentrierte Versorgungsverträge als Paragraf 73b SGB V eingeführt wurden. Durch gesetzliche Änderungen stellt sich heute nicht mehr die Frage, ob überhaupt ein HZV-Vertrag abzuschließen ist. Heute ist lediglich umstritten, in welcher Vertragsform eine HZV vereinbart werden muss oder vereinbart werden kann. In allen bisherigen Schiedsverfahren haben die Schiedspersonen mit ausführlicher Begründung die HZV als Vollversorgungsvertrag ohne KV-Beteiligung und mit Bereinigung festgesetzt. Doch sind bei einvernehmlich vereinbarten HZV-Verträgen weiterhin auch Add-on-Verträge unter Einbezug der KV möglich, solange es dazu keine klare rechtliche Regelung oder eine höchstrichterliche Entscheidung gibt.
Mit Add-on-Verträgen lässt sich, anders als bei Vollversorgungsverträgen, das Verbesserungspotential der Hausarztzentrierten Versorgung nicht ausschöpfen. Die wenigen, die bisher evaluiert wurden, zeigen in verschiedenen Punkten Vorteile gegenüber der Regelversorgung. Doch bleiben die evaluierten HZV-Add-on-Verträge den Nachweis der Wirtschaftlichkeit schuldig. Die Evaluationsergebnisse der zwei bisher evaluierten HZV-Vollversorgungsverträge, insbesondere der Vertrag der AOK Baden-Württemberg, belegen nicht nur eine signifikante Versorgungsverbesserung gegenüber der Regelversorgung, sondern auch ihre Wirtschaftlichkeit. Die bislang vorliegenden Befunde sprechen in versorgungspolitischer und aus wirtschaftlicher Sicht für die Vereinbarung von HZV-Vollversorgungsverträgen außerhalb und alternativ zum KV-System.
Eine Langversion des Artikels ist in der Zeitschrift Gesundheits- und Sozialpolitik, Zeitschrift für das gesamte Gesundheitswesen, Ausgabe 5/2015 erschienen, S. 37-45