Berlin. Die telefonische Krankschreibung sollte möglich gemacht, darüber hinaus breiter gegen Grippe geimpft werden: Mit Blick auf die bevorstehende Grippe- und Erkältungszeit im Zusammentreffen auf die Corona-Pandemie fordert der Deutsche Hausärzteverband ein Umdenken. Dass dieses sowohl politische Rahmenbedingungen als auch die individuelle Praxisorganisation betrifft, machten Bundesvorsitzender Ulrich Weigeldt und Vize Anke Richter-Scheer zum Start des 41. Deutschen Hausärztetags vor Journalisten deutlich. Dabei gehe man eher von einem „kontinuierlichen Prozess statt einer zweiten Welle” aus.
Am 17. und 18. September tagen während des Hausärztetags rund 120 Delegierte in Berlin vor Ort sowie digital. Neben Positionierungen für die Zukunft wird es dabei auch um eine Revue der vergangenen Monate gehen.
Telefon-AU soll fortgeführt werden
Der Deutsche Hausärzteverband fordert, dass Hausärztinnen und Hausärzte dauerhaft die Möglichkeit erhalten, die Bescheinigung einer Arbeitsunfähigkeit (AU) auch nach rein telefonischer Anamnese auszustellen. Dies war während der Corona-Pandemie zeitlich befristet möglich gewesen. Weigeldt erinnert nun daran, dass die Telefon-AU weiterhin keine Pflicht, sondern lediglich ein weiteres Angebot etwa neben der jüngst dauerhaft ermöglichten Video-AU wäre – die Entscheidung liege weiter in der Hand des Arztes, und der persönliche Arzt-Patienten-Kontakt bliebe der Goldstandard. Erste Untersuchungen von Kassen unterstrichen, dass die telefonische Krankschreibung entgegen einzelner Vermutungen keinen Anreiz für Missbrauch biete, betonte Weigeldt.
Die – zunächst nur temporär – aufgehobenen Beschränkungen für Videoleistungen sollten dauerhaft fallen, forderte Weigeldt darüber hinaus. Hierzu könnte der Bewertungsausschuss zeitnah eine Entscheidung treffen.
Breiter gegen Grippe impfen
Entgegen der jüngsten STIKO-Empfehlung, die Grippeimpfung weiter auf Risikopatienten zu konzentrieren, stößt der Deutsche Hausärzteverband eine breitere Impfung an. Erfahrungen aus der Praxis zeigten, dass Risikopatienten mitunter – etwa begründet in einer persönlichen Angst – gegen eine Impfung seien. Um sie trotzdem zu schützen, sei daher eine breitere Durchimpfung der sie umgebenden Umwelt nötig, so Weigeldt. Wichtig sei dabei, dass ausreichend Impfdosen zur Verfügung stünden und diese in der Fläche verteilt würden. Aufgrund der Lieferengpässe der vergangenen Jahre fürchte er jedoch, dass dies nicht der Fall sein könnte.
Darüber hinaus dürfte Ärzten kein Regress drohen, wenn bestellte Impfdosen am Ende der Saison nicht verimpft worden seien, mahnte Weigeldt. Bürokratische Auflagen und Regressandrohungen – die auch ohne Exekution Zeit fressen – seien nicht zuletzt der größte Hemmschuh für junge Kollegen, sich niederzulassen, erinnerte der Hausärzte-Chef. Das Ende April verabschiedete “Zweite Pandemie-Gesetz” sieht bereits vor, dass Ärzte in der Grippesaison 2020/21 bis zu 30 Prozent mehr an Impfstoffen bestellen und bevorraten können als im Vorjahr, ohne dass sie deswegen Regresse fürchten müssen.
Umdenken der Praxisstrukturen
Darüber hinaus sei jedoch auch ein Umdenken innerhalb der eigenen Praxisteams nötig, ergänzte Richter-Scheer, die Landesverbandsvorsitzende in Westfalen-Lippe ist.
- Strikte Trennung von Infektpatienten und Nicht-Infektpatienten
Hierbei sei wichtig, die individuellen Gegebenheiten der einzelnen Praxis zu berücksichtigen – also etwa die Größe der Räumlichkeiten oder die personellen Ressourcen. So setzten einige Kolleginnen und Kollegen für den bevorstehenden Winter auf Drive-In-Wartezimmer, Container oder Zelte vor der Praxis, um Infektpatienten abzufangen, berichtete Richter-Scheer. Dies könne jedoch nicht jede Praxis leisten. „Wir brauchen individuelle, aber pragmatische Lösungen.“
- Auf Terminsprechstunde umstellen
„Patienten müssen lernen, nicht einfach so in die Praxis zu gehen“, betonte Richter-Scheer. Dies könne nur durch eine konsequente Terminvergabe geschehen, was auch zu kürzeren Wartezeiten im Sinne der Patienten führe.
- Abbau der spezialisierten Corona-Behandlungszentren
Die oft auch als Corona-Ambulanzen betitelten Behandlungszentren, die in weiten Teilen Deutschlands bereits wieder abgebaut sind, hätten in der akuten Situation zwar geholfen, Infektpatienten aus den Praxen zu halten. Die Sicherung der Patientenversorgung jedoch könne langfristig nur in Hausarztpraxen geschehen, betonte Richter-Scheer, die gemeinsam mit ihrem Team ebenfalls über Wochen im Behandlungszentrum sowie als Verbandsvorsitzende eng in den Aufbau eingebunden war. Daher sei es wichtig, die Behandlungszentren unter Berücksichtigung regionaler Besonderheiten, etwa der Hausarztdichte vor Ort, zurückzubauen und zurückgebaut zu halten.
- Kollegiale Zusammenarbeit mit Kliniken
Werden Patienten mit der Notwendigkeit einer Corona-Testung aus der Klinik entlassen, so könne es nicht sein, dass der stationäre Sektor Vorgaben zu genauen Terminen macht, so Richter-Scheer. Aus der eigenen Praxis berichtete sie von Fällen, in denen – ohne jegliche Rücksicht auf die eigene Praxisorganisation oder Terminvorgabe – eben solche “Anweisungen” ausgesprochen worden seien.
Hausärzte ohne Zwänge arbeiten lassen
Nicht nur in der Zusammenarbeit mit Kliniken, sondern auch mit Blick auf Selbstverwaltung und Krankenkassen monierte der Deutsche Hausärzteverband zum Start des Deutschen Hausärztetags zu strenge Vorgaben. „Die Corona-Pandemie hat gezeigt, was die Hausärztinnen und Hausärzte sowie ihre Praxisteams leisten können – und das ganz ohne Vorschriften und Zwänge“, betonte Weigeldt. „Das sollte der Politik und der Selbstverwaltung Beweis genug sein, uns endlich den Raum zu lassen, den wir für unsere Arbeit so dringend brauchen!“