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Forum PolitikEU-Pläne werden zum Schreckgespenst

Die Nutzenbewertung von Arzneimitteln ist in Deutschland ein eingespieltes Verfahren. Jetzt plant Brüssel, das Verfahren mit Verweis auf den Patientennutzen an sich zu ziehen. Hierzulande jedoch fürchtet man sinkende Qualitätsstandards – und Durcheinander in den Praxen.

Amsterdam statt Bonn: Als der Zielort des Umzugs der bislang in London ansässigen Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) bekannt wurde, war das eine echte Schlappe. Allerdings nichts verglichen mit dem, was aus Brüssel jetzt droht. Die EU-Kommission – die mit der EMA schon die Arzneimittelzulassung in den Händen hält – plant, nun auch die Nutzenbewertung von Arzneimitteln an sich zu ziehen, mithin also eine der Kernaufgaben der Selbstverwaltung in Deutschland. Entsprechend entsetzt reagieren aktuell Akteure im deutschen Gesundheitssystem, die Qualitätsverluste fürchten. "Für die frühe Nutzenbewertung wäre der Plan der EU-Kommission ein großer Rückschritt", erklärt etwa Professor Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft (AkdÄ).

Ende Januar hat die EU-Kommission ihren Vorschlag vorgelegt: eine Verordnung zur Bewertung von Gesundheitstechnologien (Health Technology Assessment, HTA). Sie soll die Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten verstärken und durch mehr Transparenz Vorteile für Patienten bringen, erklärt die Kommission. Betroffen wären neue Arzneimittel ebenso wie bestimmte neue Medizinprodukte, für deren Hersteller dann etwa für den gesamten EU-Binnenmarkt eindeutige Regeln gelten würden.

In den letzten zehn Jahren wurden laut dem Verband der forschenden Arzneimittelhersteller (vfa) sämtliche der 335 Medikamente mit neuem Wirkstoff in Deutschland über die EMA zugelassen, kein einziges über das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, bei dem rein nationale Zulassungen grundsätzlich weiter möglich sind.

Qualitätsstandards in Gefahr?

Für die Nutzenbewertung von Arzneimitteln hingegen ist in Deutschland alleine die Selbstverwaltung zuständig, konkret das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen und der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA). Dessen Vorsitzender Professor Josef Hecken sieht in den Plänen der Kommission "die Gefahr, dass die nationale Versorgungssteuerung von Arzneimitteln mittelbar auf EU-Ebene verlagert wird und die hohe Qualität der Versorgung leidet".

Die aus Brüssel für viele Beobachter völlig überraschend vorgebrachten Pläne begründet eine Kommissions-Sprecherin damit, dass derzeit "der Marktzugang für innovative Technologien durch die unterschiedlichen Bewertungsverfahren und -methodiken in Europa behindert und verzerrt" werde. "Hierdurch werden die unternehmerische Planungssicherheit und die Innovationstätigkeit beeinträchtigt, der Industrie entstehen höhere Kosten, und es kommt zu Verzögerungen bei der Verfügbarkeit von Technologien." Evert Jan van Lente, beim AOK-Bundesverband zuständig für EU-Beziehungen, findet diese ökonomisch orientierte Argumentation der Kommission symptomatisch. Schon 2014, ruft er in Erinnerung, habe nur das EU-Parlament verhindern können, dass die Kommission die Zuständigkeit für EMA-Verfahren dem Wirtschaftsressort zuordnete. Das von der Kommission nun formulierte Ziel, künftig die Nutzenbewertung gleichzeitig mit der EMA-Zulassung vorzulegen, macht van Lente zusätzlich skeptisch. "Für tiefgehende Analysen bleibt da keine Zeit", sagt er.

Kollision mit Arztinfosystem

AkdÄ-Chef Wolf-Dieter Ludwig warnt im neuen "Arzneimittelbrief", dass sich die europäische Nutzenbewertung zu sehr an der EMA-Zulassung orientieren könne. "Die Ergebnisse von Zulassungsstudien sind heute häufig nur sehr eingeschränkt geeignet, einen patientenorientierten Zusatznutzen zu belegen", schreibt Ludwig. Besonders im Blick hat er die von der EMA beschleunigt zugelassenen Medikamente für seltene oder lebensbedrohliche Krankheiten. 2016 hat schon jedes dritte von der EMA neu zugelassene Medi-kament das beschleunigte Verfahren durchlaufen, 2011 war es noch jedes zehnte.

Neben der Sorge um die Qualität geht es auch um technische Unwägbarkeiten. Nach langer Vorbereitung sollen Ärzte künftig über ein Arztinfosystem (AIS) Informationen aus den Nutzenbewertungsverfahren direkt in die Praxen eingespielt bekommen. Kürzlich stellte der GKV-Spitzenverband dazu einen Prototyp vor (s. Hausarzt 01). Würde sich die EU-Kommission durchsetzen, sagt GKV-Sprecherin Ann Marini, "würde das natürlich auch die Therapie-Entscheidung der Ärzte betreffen. Vor allem dann, wenn eine Vereinheitlichung auf einem niedrigeren Standard als heute erfolgt." Und bei der KBV fürchtet Sprecher Roland Stahl, "dass wir jetzt per Rechtsverordnung ein AIS einführen werden, dessen Umsetzung für alle Beteiligten mit hohem Aufwand verbunden sein wird, und dann gegebenenfalls schon auf ein neues, anderes Verfahren vorbereitet sein müssen".

Einziges Lob bekommt die Kommission bisher von der Pharmabranche. Vfa-Sprecher Dr. Jochen Stemmler verweist darauf, dass auch das deutsche Verfahren nicht unkritisch gesehen werden sollte. "Die Zusatznutzenbewertung bereitet Preisverhandlungen vor und keine medizinische Behandlung", sagt er. "Das sieht man schon daran, dass die Leitlinien der ärztlichen Fachgesellschaften regelmäßig zu anderen Ergebnissen kommen als die Zusatznutzenbewertung." Ein EU-einheitliches Verfahren würde Ungleichheiten beseitigen. "Warum sollte sich also die medizinische Bewertung danach richten, welche Nationalität ein Europäer hat?"

Kommentar von Vytenis Andriukaitis, EU-Kommissar für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit

"Patienten profitieren schneller von innovativen Gesundheitstechnologien"

Wir leben in einer spannenden Zeit für Innovation im Gesundheitsbereich. Präzisionsmedizin sowie modernste Diagnostik und Medizinprodukte könnten unser Gesundheitswesen revolutionieren und Patienten wirksame Lösungen bieten.

Dank einer unabhängigen, transparenten und effektiven Bewertung neuer Gesundheitstechnologien (HTA) lassen sich wirklich nützliche Technologien von solchen unterscheiden, die viel versprechen, aber nur wenig halten. Deshalb wird der Vorschlag der Kommission für eine nachhaltige EU-weite Zusammenarbeit im HTA-Bereich Patienten, nationalen Behörden und der Branche gleichermaßen zugutekommen.

Vor allem aber für Patienten birgt der Vorstoß beträchtliches Potenzial. Dank mehr HTA könnten Kranke schneller in den Genuss innovativer Geräte und Arzneimittel wie Präzisionsarzneimittel oder Bluttests zur Diagnose verschiedener Krebsarten kommen. Der Vorschlag gewährleistet mehr Transparenz im Hinblick auf den therapeutischen Mehrwert und wird Patienten schneller Zugang zu neuen Technologien bieten. Manchmal kann dies den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen.

Wie die EU-Kommission den Vorschlag erarbeitet hat und welche Folgen sich für die Einzelstaaten ergeben, erklärt Vytenis Andriukaitis in seinem exklusiven Gastbeitrag für "Der Hausarzt": hausarzt.link/rp7S5

Fazit

  • Die EU-Kommission hat einen Vorschlag für ein EU-weites Health Technology Assessment (HTA), also die Bewertung neuer Gesundheitstechnologien, vorgelegt. Betroffen sind neue Arzneien sowie Medizinprodukte.
  • EU-Kommissar Vytenis Andriukaitis betont, dass das HTA für mehr Transparenz sowie ein schnelleres Ankommen neuer Technologien beim Patienten sorgen kann.
  • Im deutschen Gesundheitswesen herrscht jedoch Skepsis: Akteure fürchten einerseits sinkende Qualitätsstandards zur aktuellen Nutzenbewertung, andererseits Kollisionen mit der geplanten Einführung des Arztinfosystems nach dem Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz.
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