Aycan Schock, Hannelore Seidl und Nicole Wöhr sind drei von 2.124 Medizinischen Fachangestellten (MFA) in Baden-Württemberg (bundesweit 9.480), die die Weiterbildung zur VERAH absolviert haben. Der Aufwand der 200-stündigen Fortbildung hat sich gelohnt: Ihr Beruf, so die einhellige Meinung der drei langjährigen MFA, wurde durch die VERAH extrem aufgewertet – in der Außenwirkung und auch innerhalb des Praxisteams. „Man bekommt eine ganz andere Bindung an die Patienten. Es entsteht ein Vertrauensverhältnis, das absolut erfüllend ist“, beschreibt Aycan Schock ihre Erfahrungen beim Hausbesuch. Bei ihren Patienten sei sie komplett akzeptiert. Und Nicole Wöhr betont: „Mein Chef schätzt meine Arbeit sehr, ich kann ihn im Praxisalltag entlasten.“
Gute Organisation ist gefragt
Die drei VERAH berichten ausführlich von alternierenden Haus- und Heimbesuchen durch sie und den betreuenden Arzt und der Routinebetreuung stabiler Patienten in der Langzeitversorgung. „Wenn ein Akutfall eintritt, geht der Chef raus, da dürfen wir nicht hin“, erläutert Hannelore Seidl und ergänzt: „Wenn irgendein Punkt vor Ort unklar ist, halte ich telefonisch Rücksprache mit meinem Chef.“ Diabetesassistentin Seidl betreut vor allem chronisch kranke Ältere. Blutdruck- und Blutzuckermessungen, Medikamentenmanagement oder auch der Kontakt zu Angehörigen sind dabei nur einige der Aufgaben, die anfallen.
Damit VERAH-Hausbesuche effektiv in den Praxisalltag integriert werden können, müssen nach Ansicht der erfahrenen VERAH drei Voraussetzungen erfüllt sein:
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- Eine Praxisorganisation, die es der VERAH erlaubt, der Sprechstunde in der Praxis fernzubleiben. Das funktioniere nur in der Absprache mit dem gesamten Praxisteam. Im Alltag müssten Aufgaben, die während der Zeit der Hausbesuche in der Sprechstunde anfallen, von anderen Kolleginnen aufgefangen werden können. Dafür sei die detaillierte Absprache mit dem Hausarzt unerlässlich.
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- Eine VERAH, die den sozialen Kontakt mit den Patienten in ihrem häuslichen Umfeld nicht scheut – sie muss aber auch über etwaige Unordnung oder mangelnde Sauberkeit hinwegsehen können.
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- Und nicht zuletzt einen Vorgesetzten, der auch bereit ist, den Hausbesuch und die damit verbundenen Tätigkeiten zu delegieren.
Die wissenschaftliche Evaluation der HZV in Baden-Württemberg (1) zeigt, dass Ärzte die Entlastung nicht nur bei Hausbesuchen, sondern bei der Patientenversorgung insgesamt feststellen. Besonders hohe zeitliche Entlastung für den Arzt ergibt sich durch die Übernahme des Medikamentenmanagements. Die HZV-Evaluation zeigt, dass hier 33 Prozent der Tätigkeiten wie Bestandsaufnahme oder Abgleich des Medikationsplans länger als zehn Minuten oder sogar bis zu 50 Minuten dauern.
Zeitaufwendig ist auch das Wundmanagement sowohl durch den Verbandswechsel selbst, der zwei bis drei Mal pro Woche anfällt, als auch für die Dokumentation der Wundphasen. „Dafür ist eine Fotodokumentation notwendig und alles muss schriftlich festgehalten werden. Das ist wirklich nicht die Arbeit des Arztes“, ist Schock überzeugt.
Damit schaffen VERAH Zeitfenster, die der Arzt beispielsweise in der Präventivarbeit für Gesundheitschecks, zur Betreuung von Krebspatienten, für längere Beratungsgespräche oder auch generell für eine schnellere Terminvergabe einsetzen kann. Und natürlich kommt die von der VERAH investierte Zeit direkt den Patienten zugute, etwa wenn sie gezielt über die richtige Einnahme von Medikamenten informiert.
Kompetenz erweitern
Um dem Wunsch vieler VERAH nachzukommen, sich medizinisch fortzubilden, bietet das Institut für hausärztliche Fortbildung im Deutschen Hausärzteverband (IHF) e.V. mittlerweile 14 VERAH-Plus-Module an. Dazu zählen etwa Arzneimittelversorgung, Burn-out, Demenz, Herzinsuffizienz oder Ulcus Cruris/Dekubitus. VERAH können sich auf freiwilliger Basis so gezielt weiterqualifizieren. „Somit wird das Feld delegierbarer Leistungen in der Hausarztpraxis erweitert“, sagt Christine Wollmetshäuser, Leiterin Team Praxisberatung bei der HÄVG, und ergänzt: „Das ist der Anfang, in diese Richtung soll es weitergehen.“ Für alle motivierten VERAH eine gute Nachricht. Denn: „Wenn es noch mehr Optionen gäbe, würden wir die auch noch machen“, sagt Seidl. Konkret wünscht sich Wöhr hier ein Modul zum Thema Erkältungs- oder Lungenerkrankungen, in dem auch das Abhören gezeigt wird.
Das Tätigkeitsfeld der VERAH entwickeln auch die Vertragspartner in Baden-Württemberg beständig weiter. So etwa mit dem praxisbasierten Case-Management-Programm PraCMan im Rahmen des AOKHausarztvertrages. „Eine mögliche Aufgabenerweiterung wäre hier zum Beispiel die verstärkte Einbindung der VERAH im Bereich Einweisungs- und Entlassmanagement“, meint Tanja Rommelfangen, Geschäftsführerin der HÄVG Regionaldirektion Süd. „Wichtig ist uns dabei auch, die Rolle der VERAH als Schnittstellenmanagerin und ihre Netzwerkpartnerkompetenz weiter zu stärken.“
Aycan Schock und Nicole Wöhr haben die vertraglichen Voraussetzungen zur Betreuung der Chroniker im Programm erworben: eine vierstündige Einsteiger-Schulung und mindestens zwei MFA-Qualitätszirkel mit dem PraCMan-Modul pro Jahr. Schock, die gerade die Weiterbildung zur Diabetesberaterin absolviert, und Wöhr, die an diversen Fortbildungen zu Asthma, COPD und Diabetes teilgenommen hat, erstellen Hilfepläne und übernehmen mit der PraCMan-Software das Monitoring. Hier wird unter anderem nach Wohlbefinden, Depressivität, Sturzrisiko oder Ernährung gefragt. „Für diese Tätigkeiten habe ich mir viel Zeit genommen, um zu hören, wo etwas fehlt und in welchen Punkten etwas optimiert werden kann“, sagt Schock. Die Lebensqualität erhöhe sich in jedem Fall, weil man Hilfestellungen im Alltag geben könne, sei es zum Thema Rollator, Pflegedienst oder Reha-Maßnahmen.
In welchem Maße auch unnötige Krankenhausaufenthalte verhindert werden können, weiß Nicole Wöhr nicht allgemein zu sagen. Ihre COPD-Patienten profitierten in jedem Fall durch die engmaschige Betreuung und viele telefonische Kontakte auch jenseits des Monitorings. Durch rechtzeitige Einbestellungen könnten so häufiger Akutsituationen vermieden und die Medikation angepasst werden.
Quelle: Publikation zur Evaluation der Hausarztzentrierten Versorgung (HZV) in Baden-Württemberg – Ausgabe 2016 (www.neue-versorgung.de)
Kommentar: NäPA grundsätzlich ja – aber richtig!
Dr. Berthold Dietsche, Vorsitzender des Hausärzteverbandes Baden-Württemberg
VERAH in der Hausarztzentrierten Versorgung (HZV) decken ein sehr umfangreiches Tätigkeitsfeld ab. Dabei finden die Haupttätigkeiten – so zeigen es die Erfahrungen des Hausärzteverbandes – tatsächlich überwiegend in der Praxis statt: die Betreuung chronisch Kranker bei der DMP-Betreuung, bei Aufklärungsgesprächen und natürlich insgesamt bei der Praxiskoordination. Auch die NäPA, die ja ursprünglich fachgruppenübergreifend zur Unterstützung von Praxen in Gebieten mit relativem Ärztemangel, speziell in den neuen Bundesländern eingeführt wurden, unterscheiden sich hinsichtlich Tätigkeitsspektrum in der Praxis und Ausbildung nicht so stark von der VERAH.
Mit ihrer Regelung hat die KBV das VERAHKonzept ohne Sinn und Verstand aus dem Gesamtzusammenhang der HZV herausgelöst und als schlechte Kopie in das Kollektivvertragssystem eingefügt. Vor diesem Hintergrund lehnen wir die Einzelleistungsvergütung im EBM, insbesondere die der Hausbesuchstätigkeiten, strikt ab, weil diese völlig falsche Anreize setzt. Dieses Grundproblem behebt auch eine höhere Vergütung, wie sie seit Anfang des Jahres festgeschrieben ist, nicht. Tatsächlich liegt der Erfolg der HZV in einer völlig anderen Gebührenordnung und in einer wirksamen Form der Versorgungssteuerung.
Für die Regelversorgung heißt das Ziel ganz klar: Einen Zuschlag auf die Chronikerziffern, der als Pauschale ausgezahlt wird – ähnlich wie die Regelung in den Selektivverträgen. Wenn eine solche Übernahme in den Kollektivvertrag stattfindet, sehe ich darin keine Konkurrenz, sondern eine Möglichkeit, ausgelobtes Honorar eben auch für kollektivvertragliche Patienten abzurufen, und zwar ohne multiple Abrechnungsausschlüsse und Mindestpatientenzahlen.
„Online-Schulungen erweitern Fortbildungsangebot“
Nachgefragt bei Tanja Rommelfangen, Geschäftsführerin HÄVG Regionaldirektion Süd.
Wie bewerten Sie das Konzept der VERAH hinsichtlich seiner versorgungspolitischen Bedeutung?
Die Hausarztpraxis der Zukunft wird Herausforderungen wie sinkende Hausarztzahlen, Weiterentwicklungen in der Medizin und Versorgung zunehmend älterer, multimorbider Patienten nur als Teampraxis meistern können. Dafür ist gut qualifiziertes Praxispersonal, welches die Hausärzte effektiv entlasten und unterstützen kann, unerlässlich. Wir als Hausärzteverband sehen es daher als unsere Aufgabe, umfangreiche Fort- und Weiterbildungen für MFA anzubieten. Dazu gehört als wichtigste Errungenschaft der HZV die „Versorgungsassistentin in der Hausarztpraxis – VERAH“. Sie entlastet Hausärzte primär bei der Versorgung chronisch kranker Patienten. Die Ärzte haben mehr Zeit für Ihre Patienten, was die Hausarztpraxis als zentralen Ort der medizinischen Versorgung stärkt.
Der Hausärzteverband Baden-Württemberg bietet seit März auch Online-Schulungen für MFA an. Warum?
Wir sehen darin die optimale Ergänzung und Erweiterung unseres Fortbildungsangebots für MFA, bestehend aus Schulungen, Workshops und Qualitätszirkeln. Die Onlineschulungen bieten die Möglichkeit, aktuelle Themen sehr schnell an die Praxen zu kommunizieren. Gestartet sind wir mit HZV-Refresherseminaren, welche aktuell bereits als Online-Schulungen angeboten werden. Weitere Themen befinden sich in Vorbereitung, zudem werden Wünsche der Praxen gerne berücksichtigt.
Ist eine Praxis ohne VERAH künftig überhaupt noch denkbar?
Ich denke, eine Hausarztpraxis ohne qualifiziertes Praxispersonal wird es sehr schwer haben, die steigenden Anforderungen zu bewältigen. Wie sich die Praxen dabei aufstellen, ist sehr individuell, sehr viele Praxen beschäftigen eine oder mehrere VERAH, viele Praxen bilden ihre Medizinischen Fachangestellten kontinuierlich fort. Wichtig ist meiner Meinung nach, dass die Hausärztinnen und Hausärzte die Fort- und Weiterbildung ihrer Teams kontinuierlich und strukturiert fordern und fördern. Die VERAH ist dabei für die Hausarztpraxis in jedem Fall das Maß der Dinge.