Krankheiten können dem Betrachter in unterschiedlichen Erscheinungsbildern sichtbar werden. Ärzte – besonders die Spezialisten – klassifizieren sie in den Begriffssystemen einer physikalisch orientierten wissenschaftlichen Medizin. Patienten beurteilen sie nach den Schmerzen und Behinderungen, die mit ihnen im Alltag verbunden sind. Für Krankenversicherungen und Gesundheitspolitiker können die Krankheitskosten und gesellschaftliche Auswirkungen anderer Art im Vordergrund der Betrachtung stehen.
Hausärzte sind gut beraten, in der integrativen Ganzheitsmedizin in der Diagnostik sowohl den medizinischen Blick auf die Krankheit zu richten als auch Antwort auf die Fragen zu suchen, was eine Krankheit für den Lebensalltag der Patienten bedeutet.
Denn selbst wenn Kosten der Erkrankung und Regressdrohungen keine Rolle spielen, kommt es doch immer gleichermaßen auf eine medizinisch zutreffende Beurteilung des Krankheitsgeschehens und auf eine evidenzbasierte Therapie ebenso an wie auf die Orientierung am Patienten. Schließlich muss dieser mit den Problemen seiner Krankheit den Alltag bewältigen.
Wenn Ärzte selbst als Patienten eine Krankheit durchmachen, dann ist dies ein möglicherweise ziemlich spannendes Erlebnis, von dem auch nicht Betroffene lernen können. Die eigenen subjektiven Beeinträchtigungen und Emotionen werfen die Frage auf, ob die Fachmedizin mit ihren Analysen und evidenzbasierten Regeln den Wünschen der Patienten nach Erleichterung von der Krankheitslast in ausreichendem Maße entgegenkommt. Zeitgleich fragt man sich selbst: Habe ich präventiv zur Vermeidung des eigenen Krankheitszustandes und für die Rehabilitationsziele genug getan?
Warum ist die Therapie gescheitert?
Bedenken und Widerstände gegen die Offenlegung der eigenen Krankengeschichte überwinde ich schon deshalb, weil die Tatsachen in jedem Falle weniger schaden als Gerüchte dies tun könnten, wenn ein Arzt wegen Krankheit plötzlich ausfällt, der politisch tätig war und ist und der im 76. Lebensjahr noch täglich voll praktiziert.
Ich bin jetzt seit etwa 50 Jahren Arzt und habe in dieser Zeit meine ererbten Risikofaktoren im Wesentlichen selbst behandelt. Ausnahme ist eine ausgeprägte allergische Diathese, die schon die Kindheit mit bestimmte. Die Risikofaktoren habe ich bis auf die Hyperurikämie in den letzten drei Jahrzehnten auch medikamentös unterdrückt und regelmäßig selbst kontrolliert. Subjektiv habe ich mich bis Anfang November 2016 vor allem im Vergleich zu Patienten desselben Alters mit analogen Risikofaktoren ausgesprochen fit gefühlt.
Dies erwies sich ab Anfang November 2016 als Irrtum, schließlich kam es Ende November das erste Mal zu Angina pectoris. Ich begab mich anlässlich der dritten Blutdruckkrise innerhalb weniger Tage zur Aufnahme ins Herzzentrum Bremen Links der Weser:
Tags darauf wurde eine Herzkatheter- Untersuchung vorgenommen, einen Tag später erfolgte ein Aorto-koronarer Bypass. Seither geht es mit der Mobilisation aufwärts, die Operation ist gelungen, Herzprobleme sind seit der OP nicht aufgetreten. Sieben Wochen nach der Operation habe ich einige wenige dringende Praxis- Termine wieder absolviert.
Erste Begegnung mit der „Spitzenmedizin“
Fazit: Dies war im Laufe meines Lebens die erste persönliche Begegnung mit der sub-spezialisierten sogenannten Spitzenmedizin. Dieser Begriff ist gerechtfertigt, wenn man die technologische Ausrichtung miteinander kooperierender Spezialfächer betrachtet. Es ist eine enorme Kooperationsleistung, wenn der für die Aufnahme verantwortliche Internist in der Lage ist, nach den erforderlichen Voruntersuchungen, schon am Tag nach der Aufnahme im Herzkatheter- Labor, nach entsprechender Aufklärung und Anästhesievorbereitung an einem Freitagnachmittag die Bypassoperation durchführen zu lassen. Die Kooperation zwischen den Subspezialisten sowie die Zusammenarbeit mit diensthabenden Oberärzten lief auch über das Wochenende reibungslos. Besser kann man es organisatorisch und fachlich aus meiner Patientensicht nicht machen.
Aus meiner allgemeinmedizinischen Sicht liefert die von mir erlebte Form der spezialisierten Medizin genau die Leistung, die auch bei optimaler hausärztlicher Versorgung nicht erbracht werden kann. Schließlich ist es eine Tatsache, dass das Management meiner eigenen Risikofaktoren unter Hilfe meiner Hausärztin und Praxispartnerin zwei Jahrzehnte lang funktionierte, aber die resultierenden „Endpunkterkrankungen“ nicht verhindert hat. Deshalb muss ich mich selbstkritisch fragen: Warum hat sich dieses Resultat trotz meines besten Bemühens ergeben? Schließlich habe ich mindestens drei Jahrzehnte lang konsequent nach den Leitlinien meine Risikofaktoren gemanagt. Aber das Ergebnis war ungenügend.
Meine Begründung dafür ist notwendigerweise hypothetisch. Ganz offensichtlich setzen gefäßschädigende Stoffwechselvorgänge bei entsprechender genetischer Disposition schon biografisch wesentlich früher ein als statistisch verglichene Laborergebnisse es ausweisen.
Im Klartext: Es kann durchaus sein, dass die notwendigerweise willkürlich festgesetzten „normalen“ Grenzwerte kritisch überarbeitet und besser an das Lebensalter angepasst werden müssen. Die Kombination der Risikofaktoren spielt möglicherweise dabei eine größere Rolle als bisher bekannt ist. Schließlich ist es möglich, dass viele langfristig für den Stoffwechsel der Gefäßwandzellen relevante Vorgänge noch nicht vollständig analysiert sind.
Herausforderung für die Forschung
Für die Forschungsprogramme der Allgemeinmedizin zur Verbesserung des Managements der Risikofaktoren bietet sich ein strategisches Grundproblem. Nach den Prinzipien der evidenzbasierten Medizin hat sich bei den Meinungsführern der allgemeinmedizinischen Hochschullehrer das Prinzip etabliert, die Regeln der Leitlinien aus statistischen Auswertungen randomisierter doppelblinder möglichst multizentrischer Studien zu entwickeln. Aber zu den Grundgesetzen jeder Statistik gehört die Tatsache, dass ihre Resultate nur Kollektive beschreiben und keine Aussage für den Einzelfall einer Patientenbiografie erlauben.
Dies ist deshalb besonders zu bedenken, weil alle Risikofaktoren im Zusammenhang mit sklerosierenden Prozessen der Blutgefäße – wie Diabetes mellitus, Übergewicht, Hypertonus, Fettstoffwechselstörungen, Temperament und Verhaltensstile, daraus resultierender Bewegungsmangel – auch teilweise genetisch bedingt sein können. Hinzu kommen in einer jahrzehntelangen Biografie Verhaltensweisen, die von Bildung und Lebensentscheidungen mitbestimmt sind.
Am Ende wird daraus ein Ursachenbündel, welches darüber bestimmt, ob Endpunkterkrankungen auftreten oder nicht. Dieses komplexe Geschehen muss Gegenstand einer allgemeinmedizinischen Forschung werden, die der Tatsache Rechnung trägt, dass es in der gesamten Weltbevölkerung keine zwei Menschen gibt, die identische Voraussetzungen bei Risikofaktoren- Profilen und deren Bewältigung mitbringen. Selbst bei eineiigen Zwillingen ist dies nach neuesten Forschungsergebnissen der Proteonik nicht der Fall.
Der Patient in seiner Umwelt
Deshalb muss sich die an der evidenzbasierten Medizin orientierte forschende Allgemeinmedizin selbstkritisch fragen, in welchen Grenzen sie Leitlinien auf statistischer Grundlage akzeptieren darf. Eigene biografische Beobachtungen – wie ich sie oben ausgeführt habe
- veranlassen mich, auch bei der Behandlung von Patienten mehr als bisher nach den beeinflussbaren und nicht beeinflussbaren biografischen Lebensbedingungen zu fragen.
Vielleicht ist es wichtiger, sich auf den Patienten und seine Lebensbedingungen zu spezialisieren, um in deren Rahmen Krankheit zu behandeln. Denn die individuelle Erkrankung kann man statistisch nur in den Grenzen beschreiben, in denen Individuen interindividuell genetisch bedingt keine unterschiedlichen Organfunktionen haben.