Frankfurt/Main/Berlin. Eine stockende Versorgung bei gängigen Medikamenten wird für Apotheken und Patienten zu einem immer größeren Problem. “Lieferengpässe bei Schilddrüsenarzneien, Arzneien gegen Gicht oder Schmerzmitteln wie Ibuprofen sind ein dauerndes Ärgernis”, sagt Mathias Arnold, Vizepräsident der Apothekervereinigung ABDA. Auch der Rückruf des Blutdrucksenkers Valsartan nach einer Verunreinigung habe 2018 zu einem Mangel in den Apotheken geführt und normalisiere sich erst langsam. “Die Lieferengpässe haben in den vergangenen Jahren zugenommen.”
“Das zehrt an den Nerven”
Zwar lassen sich viele knappe Arzneien durch andere Medikamente ersetzen, doch das bleibe nicht ohne Folgen, warnt Arnold. “Das sind nicht die Mittel, auf die die Patienten eingestellt sind und nicht zwingend die, die sie am besten vertragen.”
Hormone in Schilddrüsenmedikamenten etwa würden in Mini-Dosierungen verabreicht. “Wenn Firma B die Pillen anders presst, macht das schon einen Unterschied.” Patienten müssten dann von ihrem Arzt anders eingestellt werden. Auch bei Apothekern kosten Lieferengpässe Zeit: Helfen eine größere Packung oder doppelt so starke Tabletten, die der Patient teilen muss? Muss der Arzt das Rezept ändern? Das zehrt an den Nerven. Für neun von zehn selbstständigen Apothekern zählen Lieferengpässe zu den größten Ärgernissen im Alltag, so die ABDA.
Kein Grund für Alarm
Laut dem Apothekerverband hat sich die Zahl der nicht verfügbaren Rabattarzneien fast verdoppelt: Von 4,7 Millionen Packungen 2017 auf 9,3 Millionen im vergangenen Jahr. Jedes 50. dieser Mittel sei von Lieferengpässen betroffen – also mehr als zwei Wochen nicht verfügbar oder deutlich stärker nachgefragt als angeboten.
Sind nun Arzneien in großem Stil knapp? Drohen Patienten ernsthafte Gesundheitsgefahren? Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte sieht keinen Grund, Alarm zu schlagen. Die Behörde hat derzeit knapp 290 Meldungen über Lieferengpässe bei Medikamenten erfasst – bei rund 103.000 zugelassenen Arzneimitteln in Deutschland.
Daten zu Lieferengpässen gibt es seit 2013. In dem Jahr wurden laut Bundesregierung 42 Fälle gemeldet, 2017 waren es 108 Fälle, 2018 bereits 268.
Zwar gebe es “eine kontinuierliche Steigerung der Lieferengpass-Meldungen”, erklärte das Institut. Die Zahlen ließen sich aber nicht mit den Vorjahren vergleichen, da sich die Datengrundlage geändert haben. Zudem gibt es keine Pflicht, Lieferengpässe bei Arzneien zu melden – wohl aber einen Trend zu mehr freiwilligen Angaben. Ohnehin sei ein Lieferengpass noch lange kein Versorgungsengpass. Gemessen an allen Meldungen entstünden Versorgungsengpässe “relativ selten.”
Was Apotheker vorschlagen
Die Apotheker aber fordern politische Lösungen wie mehr Anreize für eine stärkere Wirkstoffproduktion in Europa. Auch kritisieren sie Rabattverträge zwischen Krankenkassen und Herstellern. Dabei bekommen Kassen von Pharmafirmen Preisnachlässe für garantierte Mindestabnahmen. Doch damit sind Apotheken darauf beschränkt, je nach Kasse des Patienten nur ein Medikament bestimmter Arzneifirmen abzugeben. “Wenn es zu Problemen bei einem Hersteller kommt, stehen kaum Alternativen zur Verfügung”, sagt Arnold. Der Vorschlag der Apotheken: Die Rabattverträge müssten sicherheitshalber auf eine breitere Basis mit mehreren Pharmaherstellern gestellt werden.
Die Krankenkassen sehen das anders. Rabattverträge seien für “Effizienzreserven” im Gesundheitssystem nach wie vor unentbehrlich, erklärt der GKV-Spitzenverband, die Lobby der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen. Allein 2018 hätten Rabattverträge die Arzneiausgaben der Kassen um 4,5 Milliarden Euro gesenkt. Auch könnten Pharmahersteller so besser planen. Überhaupt werde die Rolle von Rabattverträgen bei Lieferengpässen überschätzt. “Dafür ist das deutsche Pharmageschäft viel zu klein.” Hersteller agierten global.
ABDA-Vizepräsident Arnold sieht noch ein Mittel: Ein Exportverbot lebensnotwendiger Arzneien, bei denen Knappheit herrsche. Oft würden Medikamente aus Deutschland nach Großbritannien oder Schweden verkauft, wo die Arzneipreise höher sind. “Das Problem ist, dass die Arzneipreise reguliert sind, aber der Handel ist frei.”
Spahn fordert Gegenmaßnahmen
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn will stärker gegen Lieferengpässe vorgehen. “Patienten erwarten zu Recht, dass sie dringend notwendige Medikamente unverzüglich bekommen”, sagte der CDU-Politiker am Montag laut Mitteilung. “Das ist momentan leider zu häufig nicht der Fall.” Der Bund werde daher wieder stärker in die Verteilung von Arzneien eingreifen.
Als Gegenmaßnahme fordert Spahn etwa eine Meldepflicht. Damit könnte Pharmafirmen und Großhändlern vorgeschrieben werden, Behörden über Lagerbestände und drohende Lieferengpässen bei versorgungsrelevanten Arzneien zu informieren. Bisher gibt es nur freiwillige Angaben, die das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte erfasst. Auch sollen künftig behördliche Vorgaben an Pharmafirmen und Großhändler zur Lagerhaltung von wichtigen Medikamenten erlaubt sein, so Spahn. Die Maßnahmen sind Teil von laufenden Gesetzesinitiativen.
Dazu zählen auch mögliche Abweichungen von Rabattverträgen zwischen Krankenkassen und Pharmaunternehmen: Wenn Rabatt-Arzneien nicht zur Verfügung stehen, sollen Apotheker künftig nach 24 Stunden alternative Mittel abgeben dürfen.
Warum entstehen Lieferengpässe?
Gründe für Lieferengpässe gibt es viele. So herrscht im globalen Gesundheitswesen Kostendruck. Viele Pharmakonzerne lassen laut ABDA Wirkstoffe in Fernost herstellen – etwa Antibiotika in China und Indien. Dort konzentriert sich die Produktion auf wenige Betriebe, wie der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) erklärt. Die Folge: Steht die Produktion zeitweilig still oder kommt es wegen Verunreinigungen zu Arznei-Rückrufen, hakt es in der Lieferkette.
“Kein Hersteller hält bewusst Arzneimittel knapp oder gibt nur vor, lieferunfähig zu sein”, betont der BPI. Jeder Lieferengpass sei ein Vertrauensverlust und Imageschaden, was zu Umsatzrückgängen führe.
Quelle: dpa