Serie Gender-MedizinArzneimittel: Frau ist nicht gleich Mann

Der Gebrauch und die Wirkung von Arzneimitteln sind bei Männern und Frauen unterschiedlich. Jedoch hat eine geschlechtersensible Pharmakotherapie bislang kaum Eingang in die praktische Medizin gefunden.

Männer und Frauen unterscheiden sich hinsichtlich des Gebrauchs und der Wirkung von Arzneimitteln auf vielfache Weise. Allerdings ist das Interesse, daraus Konsequenzen für die praktische Medizin zu ziehen, bisher gering.

Um Fehlmedikationen und damit verbundene Folgekosten für das Gesundheitswesen zu vermeiden, ist es zwingend nötig, diese Aspekte bei der Pharmakotherapie stärker zu berücksichtigen. Das betrifft sowohl die Anwendung und Dosierung von Arzneimitteln als auch die Berücksichtigung biologischer Ursachen.

Dabei sind Geschlechterunterschiede in der Pharmakotherapie nicht nur für Frauen relevant: Auch Männer können medizinisch benachteiligt sein.

Unterschiede in der Versorgung

Verordnungsmengen von Arzneimitteln unterscheiden sich erwartungsgemäß nach Alter und Geschlecht. Es gibt eine Reihe von Arzneimitteln, die Frauen auffällig oft erhalten. Dazu gehören Sexualhormone, Osteoporosemittel, Schilddrüsentherapeutika und Mineralstoffe.

Antithrombotische Mittel und Lipidsenker bekommen dagegen häufiger Männer. Die Unterschiede werden bei den Psychopharmaka besonders offensichtlich: Frauen nehmen deutlich mehr ein als Männer. Sowohl bei den selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern als auch bei den trizyklischen Antidepressiva (Amitriptylin, Doxepin, Trimipramin usw.) sind die Unterschiede groß.

Dasselbe gilt für Benzodiazepine oder Z-Substanzen (Zolpidem, Zopiclon, Zaleplon). Auch bei chronisch entzündlichen Erkrankungen dominieren Frauen. In Übereinstimmung mit der höheren Entzündungsaktivität weiblicher Leukozyten stimuliert Estradiol Entzündungsreaktionen, während Testosteron eher entzündungshemmend wirkt.

Deshalb greifen Frauen wesentlich häufiger zu nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR). Auch wissen wir mittlerweile, dass Frauen bei Angiotensin-Rezeptor-Blockern, Betablockern und ACE-Hemmern meist mit der Hälfte der Dosierung auskommen und so ihre Mortalität am niedrigsten ist.

Beispiel: PhytoVIS-Studie

Geschlechterunterschiede gibt es auch bei der Anwendung freiverkäuflicher pflanzlicher Arzneimittel. So zeigte kürzlich eine großangelegte nicht-interventionelle epidemiologische Studie (PhytoVIS) mit 24.056 Patienten in Apotheken und Arztpraxen, dass mehr weibliche als männliche Patienten pflanzliche Arzneimittel nutzen (68,34 versus 31,66 Prozent), wobei die größte Altersgruppe zwischen 31 und 50 Jahren lag (s. Abb.).

Diese Studie bestätigt, dass Frauen mehr pflanzliche Arzneimittel gegen Angstzustände und Schlafstörungen einnehmen, während bei den Männern Erkältung und Gelenkschmerzen die Hauptindikationen sind.

Unterschiedliche Wirkungen

Unabhängig von den Indikationen wirken viele Arzneimittel bei Frauen und Männern gleich oder sehr ähnlich. Bei einigen gibt es jedoch Unterschiede bei Wirkungen und Nebenwirkungen (s. Tab.).

Während früher vielfach angenommen wurde, dies beruhe vor allem darauf, dass Frauen mehr Medikamente einnehmen, gibt es heute Hinweise, dass Unterschiede in der Pharmakokinetik und -dynamik ursächlich sind. Die Gründe liegen zum einen in der unterschiedlichen genetischen Ausstattung, dann in unterschiedlichen epigenetischen Modifikationen und schließlich in der Wirkung.

Frauen haben nicht nur eine andere emotionale Grundstruktur, sondern auch einen völlig anderen Körperbau und einen anderen Stoffwechsel als Männer. Sie sind einige Kilo leichter, Muskelmasse, Fett- und Wassergehalt sind bei ihnen anders verteilt und ihre Ausstattung an Enzymen unterscheidet sich von der des Mannes.

Fettlösliche Medikamente (zum Beispiel Halothan, Thiopental) werden im Fettgewebe gespeichert und verbleiben daher bei Frauen länger im Körper. Dass Frauen Arzneistoffe unterschiedlich verstoffwechseln und demzufolge auch schneller toxische Wirkungen zeigen, ist bisher nur für einige Substanzen (zum Beispiel Alkohol) im Detail untersucht.

Gravierende Folgen möglich

Wann sind diese geschlechtsspezifischen Unterschiede relevant? Bei einigen Arzneistoffen können sie gravierende Folgen haben. So ist die hepatische Clearance von Cyclosporin und Methylprednisolon bei Frauen um 20 bis 40 Prozent größer als bei Männern.

Dies wird auf eine andere Cytochrom-P450-Ausstattung und -Aktivität zurückgeführt. Durch eine geringere renale Clearance erreichen Frauen bei gleicher Digoxin-Dosis höhere Plasmakonzentrationen, sodass Arrhythmien begünstigt werden.

Zu berücksichtigen sind auch Wechselwirkungen mit weiblichen Geschlechtshormonen. Auf die Pharmakokinetik von Arzneimitteln können Hormonschwankungen während des Menstruationszyklus und während der Schwangerschaft, die Einnahme von hormonellen Verhütungsmitteln und die Hormontherapie bei Wechselbeschwerden Einfluss nehmen.

Die besondere Chemie der Frauen umfasst nicht nur die Pharmakokinetik, sondern auch die Pharmakodynamik von Arzneistoffen. So reagieren Frauen empfindlicher auf Morphin. Männer benötigen zur Schmerzfreiheit eine im Schnitt um mindestens 40 Prozent höhere Morphindosis.

Frauen wiederum erleiden durch Morphin eine zum Teil doppelt so starke Atemdepression bei gleicher Dosierung.

Interessenkonflikte: Die Autorin hat Honorare von den Firmen Steigerwald Arzneimittelwerk GmbH und Repha GmbH Biologische Arzneimittel erhalten.

Literatur bei der Verfasserin.


Kommentar

von Dr. Johanna Bobardt, Fachärztin für Allgemeinmedizin, Vize-Sprecherin Forum Weiterbildung

Die Schlaftablette Zolpidem ist ein Bestseller: Sie ist eine der weltweit am häufigsten verschriebenen Medikamente gegen Schlaflosigkeit und Jetlag. Doch etwa ein Jahrzehnt nach der Erstzulassung gab es erstmals Berichte von überwiegend weiblichen Patientinnen, die am Morgen nach der Einnahme in Verkehrsunfälle verwickelt waren.

Viele Verkehrsunfälle und Gerichtsurteile später und nach einer erneuten Analyse der Daten nach Gender bestätigte die US-Arzneimittelaufsichtsbehörde 2013, dass die Forschung, die zur Markteinführung des Medikaments geführt hatte, nicht zwischen Männern und Frauen unterschieden hatte.

Erst nach zwei Jahrzehnten des öffentlichen Gebrauchs wurde somit erkannt, dass Frauen Zolpidem deutlich langsamer metabolisierten als Männer. Die vom Hersteller empfohlene Dosis war sogar doppelt so hoch wie für Frauen eigentlich geeignet.

Im Ergebnis war der Zolpidem-Blutspiegel der Frauen nach dem Aufwachen oft noch so erhöht, dass sie aufgrund verminderter Aufmerksamkeit häufiger Verkehrsunfälle erlitten.

Dies ist nur ein Fall, der stellvertretend steht für einen Alltag, in dem wir als Hausärzteschaft täglich Therapieentscheidungen zu Medikamenten treffen, bei denen uns 50 Prozent der Daten fehlen.

Wie sollen wir HausärztInnen damit umgehen? Informationen zu Geschlechts- und Gender-Aspekten von Medikamenten sind schwierig zu finden und erfordern noch immer einen – im Alltag häufig nicht zu leistenden – persönlichen Einsatz.

Es gibt Leitlinien zur Dosisanpassung im Alter, Initiativen wie “Klug entscheiden” oder auch Datenbanken wie “Embryotox”, um bei Älteren, bei Multimedikation oder in Schwangerschaft und Stillzeit die pharmakologisch richtige Entscheidung zu treffen. Aber für Gender?

Wir brauchen Institute, die geschlechterspezifische Unterschiede gesunder und kranker Menschen herausarbeiten und für eine bessere Krankenversorgung und medizinische Ausbildung verfügbar machen.

Wir brauchen Leitlinien, die Pharmakologie und Gender genauso beinhalten wie Dosierungsanpassungen im Alter oder bei Niereninsuffizienz. Und wir brauchen Datenbanken, wo jede Hausärztin und jeder Hausarzt mit zwei Klicks die Indikation und Dosierung nachschauen kann, je nachdem, wer gerade im Behandlungszimmer sitzt.

Schweden hat es vorgemacht. Bereits seit 2013 kann jeder Mitarbeitende im Gesundheitswesen in der Datenbank Janusinfo evidenzbasiert potenzielle Geschlechtsunterschiede medikamentöser Therapien nachlesen.

Das braucht Zeit, kostet Geld und ist unbequem. Aber wollen wir warten, bis das nächste Medikament an die Wand fährt? Oder Teil der Veränderung sein? Denn eine geschlechtersensible Pharmakotherapie bedeutet auch eine immer personalisiertere Medizin. Und davon profitieren alle Geschlechter.

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