GesundheitssystemAbwehrbereit sein, geht nur gemeinsam

Deutschlands Gesundheitswesen sollte sich verstärkt auf die Bewältigung von Krisen und Kriegen vorbereiten. Fachleute mahnten zu einem Umdenken – ein neues "Mindset" brauche es, um auf die absehbaren und drohenden Gefahren vorbereitet zu sein.

Mit dem Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine ist die bisherige Weltordnung aus den Fugen geraten. Bundeskanzler Olaf Scholz hat es in seiner Rede im Frühjahr 2022 eine “Zeitenwende” genannt. Und der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen und in der Pflege (SVR) hat 2023 in seiner Stellungnahme deutlich gemacht, dass eine Zeitenwende auch im Gesundheitswesen ankommen muss.

Angesichts der Konflikte, Pandemien, der Kriege und den Folgen des Klimawandels müsse verstärkt der “Fokus auf die Krisenfestigkeit des Gesundheitssystems” gerichtet werden. Sonst bleibe es, was es bislang ist – ein “Schönwettersystem”, das allenfalls ein kurzzeitig höheres Aufkommen an Patientinnen und Patienten bewältigen könne.

Für die Zukunft werde das nicht reichen, betonte Bundesärztekammerpräsident Dr. Klaus Reinhardt bei der BÄK-Veranstaltung “Bedingt abwehrbereit? Die Patientenversorgung auf den Ernstfall vorbereiten”. Er mahnte: “Wir müssen die neuen Realitäten akzeptieren, uns auf den Ernstfall vorbereiten und die Resilienz im Gesundheitswesen stärken.”

Militär- und Zivilkliniken gefordert

Wie also ist eine resiliente Versorgung zu gestalten, die funktionsfähig bleibt, auch wenn sich Cyberattacken, Fake News, Sabotagen oder eben militärische Konflikte ausbreiten und Kliniken wie Praxen bedrohen?

Prof. Heyo Kroemer, Vorsitzender des Expertenrates “Gesundheit und Resilienz”, sieht im Zusammenwirken von militärischen und zivilgesellschaftlichen Kliniken die größte Herausforderung. Schon jetzt werde die Berliner Charité mit der Behandlung von schwerstverletzten Soldaten konfrontiert. So sei beispielsweise ein Soldat aus der Ukraine operiert worden, der zuvor aufgrund seiner schweren Gesichtsverletzungen von neun Uni- und zwei Militärkrankenhäusern abgelehnt worden war.

Im Krisenfall würden sich die Fragen einer adäquaten Patientenversorgung weiter verschärfen: “Angenommen, es gibt einen Angriff, bei dem auch Radioaktivität freigesetzt wird – welche Klinik ist darauf vorbereitet, solche Verletzten aufzunehmen?”

Deutschland als Drehscheibe

Dass es jetzt nicht darum gehe, “mit der Kriegsfahne zu wehen”, sondern vielmehr um die “Pflicht, sich vorzubereiten”, betonte Dr. Ralf Hoffmann, Generaloberstabsarzt und Befehlshaber des Zentralen Sanitätsdienstes der Bundeswehr. Denn egal, ob Bündnis- oder Verteidigungsfall, Deutschland werde aufgrund seiner geographischen Lage zur “Drehscheibe” von Streitkräften aus unterschiedlichen Ländern werden. Und auch diese Soldaten und Soldatinnen müssten gegebenenfalls medizinisch versorgt werden.

Pro Tag sei laut Hoffmann mit bis zu 1.000 Patientinnen und Patienten aus umkämpften Gebieten zu rechnen. Allein die fünf Bundeswehrkliniken in Deutschland könnten deren Versorgung nicht stemmen: “Ich bin darauf angewiesen, dass die zivilgesellschaftlichen und die militärischen Gesundheitseinrichtungen zusammen funktionieren – und zwar in der gesamten Kette von Akutversorgung, Transport, Behandlung in einer Klinik und Rehabilitation.

” Zudem sei davon auszugehen, dass weitere 10.000 verletzte Zivilisten ebenso versorgt werden müssen. Hoffmann will daher schon jetzt mit den Kliniken verhandeln und sich über Verträge rechtlich absichern.

Dass vor allem die Krankenhäuser und Rettungsdienste gefordert sind, machten Prof. Kerstin von der Decken, Gesundheitsministerin in Schleswig-Holstein, sowie Ralph Tiesler, Präsident des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), deutlich: Kliniken zählen zur “kritischen Infrastruktur” und seien auch über die Landesgesetze verpflichtet, Alarm- und Einsatzpläne zu erstellen sowie die länderübergreifende Verteilung von Intensivpatienten über das sogenannte “Kleeblattkonzept” zu steuern.

Auf Bundesebene werde aktuell ein “Operationsplan Deutschland” vertraulich erarbeitet. Die Landesministerin empfiehlt, schon bei aktuellen Gesetzesvorhaben – wie etwa der Krankenhausreform – die Ausstattung für ein schnell belastbares Gesundheitswesen mitzudenken. Tiesler wiederum verwies darauf, dass an der Basis der Gesundheitsversorgung oft auch ehrenamtliche Kräfte mit dabei sind.

Laut Schätzungen sind es bundesweit rund 1,7 Millionen Menschen, die sich freiwillig einbringen. Ob diese auch im Ernstfall zur Stelle sind, sei kaum einzuschätzen.

Niedergelassene nicht zu verpflichten

Eine weitere Leerstelle zeigt sich im ambulanten Bereich der Gesundheitsversorgung. Haus- und gebietsfachärztlich Niedergelassene können schließlich nicht verpflichtet werden. Darauf verwiesen verschiedene Vertreter von Landesärztekammern aus dem Publikum.

Zudem verpflichten sich Ärztinnen und Ärzte per Eid, alle Menschen gleich zu behandeln – ob jung oder alt, ob als Verletzte im zivilen oder militärischen Geschehen. Generaloberstabsarzt Hoffmann sieht darin einen zentralen Konflikt: Nur, wenn die Versorgung vorab vertraglich festlegt ist, lasse sich eine Konkurrenz unter den Patienten verhindern.

Dr. Edgar Pinkowski, Präsident der Landesärztekammer Hessen und unter den Zuhörern, empfahl, die Niedergelassenen verstärkt zu sensibilisieren, etwa vermehrt entsprechende Fortbildungen anzubieten und diese gemeinsam mit militärischen Gesundheitseinrichtungen anzubieten.

Ein Beispiel sei das Symposium “Oranienstein 2.0: Im Ernstfall: Was bedeutet Kriegsmedizin?”, das die LÄK in Hessen und Rheinland-Pfalz gemeinsam mit Experten der Bundeswehr Ende September angeboten haben. Die Resonanz war immens. Mit rund 165 Teilnehmenden war der Tag ausgebucht. “Wir hätten die doppelte Zahl an Interessierten aufnehmen können”, erklärte Pinkowski.

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