Tinnitus ist weit verbreitet: Fast jeder vierte Deutsche kennt das Ohrgeräusch, insgesamt leiden etwa drei Millionen Menschen darunter. Die Hälfte von ihnen fühlt sich deutlich beeinträchtigt und ist behandlungsbedürftig. Für etwa 0,5 Prozent ist das Geräusch gar unerträglich, sie leiden unter einem dekompensierten Tinnitus. Meist tritt das Symptom erst ab dem 40. Lebensjahr auf, mit einem Altersgipfel bei 65 bis 74 Jahren. Allerdings sind inzwischen oft auch jüngere Menschen betroffen – zu laute Musik aber auch Stress und psychische Belastungen werden dafür verantwortlich gemacht. Übermäßiger Stress kann das Ohrgeräusch verstärken und führt zu einem Teufelskreis aus erhöhter Lärmempfindlichkeit, Angst, erhöhter Anspannung und verstärkt wahrgenommenem Tinnitus. Daher beinhalten viele Therapien stress-abbauende Methoden.
Ursache im Gehirn
Tinnitus kann aufgrund zahlreicher Erkrankungen oder auch durch die Einnahme bestimmter Medikamente entstehen (siehe Tabelle). Doch bei fast der Hälfte der Fälle lässt sich keine eindeutige Ursache ermitteln. Neurologen gehen heute davon aus, dass das Ohrgeräusch zwar häufig mit einer Schädigung der Haarzellen im Innenohr beginnt, die eigentliche Wahrnehmung jedoch durch eine fehlerhafte Umstrukturierung im Gehirn entsteht. Da die Signale der zerstörten Haarzellen in Richtung Hörrinde ausbleiben, werden die betroffenen Neurone übererregbar und geben selbst spontan Impulse ab, die von den Betroffenen als Geräusche wahrgenommen werden. Weshalb diese Geräusche oft hochfrequent sind, kann man sich inzwischen ebenfalls erklären. Die Haarzellen sind tonal – vergleichbar mit einer Klaviertastatur – angeordnet, wobei die Sinneszellen für hohe Töne am Eingang der Hörschnecke liegen und daher oft zuerst geschädigt werden. Folglich fehlen die Signale für hohe Frequenzen, welche das Gehirn dann durch Fehlimpulse ersetzt.
Akuten Tinnitus zeitnah behandeln
Der akute, unter drei Monate andauernde Tinnitus gilt inzwischen nicht mehr als Notfall, sollte jedoch in absehbarer Zeit behandelt werden. Tritt er ohne Hörverlust auf, therapiert man ihn wie einen Hörsturz, welcher häufig (in 85 Prozent der Fälle) begleitend auftritt. Zu den Behandlungsvorschlägen der aktuellen Leitlinie zählt eine systemische Therapie mit hoch dosiertem Glukokortikosteroid über drei bis sieben Tage. Bleibt die systemische Therapie erfolglos, ist eine intratympanale Injektion möglich. Als einziges Medikament ist ein Ginkgo-biloba-Extrakt (Tebonin®) für die adjuvante Therapie bei Tinnitus mit vaskulärer und involutiver Genese zugelassen. Alternative Therapieoptionen wie etwa die hyperbare Sauerstofftherapie wurden weitestgehend verlassen. Da man heute nicht mehr von einer Durchblutungsstörung als Ursache ausgeht, entfallen auch durchblutungsfördernde Medikamente wie Hydroxyethylstärke (HES), Naftidrofuryl oder Pentoxifyllin. Bei geringer Beeinträchtigung lässt sich eine Spontanremission abwarten, zumal der akute Tinnitus in etwa 80 Prozent der Fälle selbstlimitierend ist.
Chronischer Tinnitus erfordert Geduld
Das Ziel vieler Therapieansätze besteht darin, dem Phänomen weniger Aufmerksamkeit zu schenken und/oder die fehlgesteuerten Areale des Gehirns neu zu modellieren. So funktioniert etwa der Rauschgenerator, welcher durch leises Rauschen das Ohrgeräusch maskiert und so aus der bewussten Wahrnehmung verdrängt. Bei einer gering-gradigen Hörstörung hilft häufig ein Hörgerät, da die besseren Höreindrücke den Tinnitus überdecken.
Die Neuro-Musiktherapie scheint ebenfalls eine Linderung des Tinnitus und obendrein eine Veränderung der Gehirnstruktur zu bewirken. Zu diesem Schluss kommt Christoph Krick, vom Neurozentrum der Saar-Universität in Homburg. Er hat die Effekte des am Deutschen Zentrum für Musiktherapieforschung (DZM) in Heidelberg entwickelten aktiven Hörtrainings mittels Magnetresonanz-Tomographie (MRT) untersucht und konnte zeigen, dass sich schon nach fünf Tagen die Strukturen des Gehörkortex verändern. Die Patienten berichteten von einer raschen Besserung – sie empfanden die Ohrgeräusche als weniger störend. Wichtig ist, dass bei diesem Ansatz zusätzlich verschiedene Entspannungstechniken vermittelt wurden.
Auf dieser Multimodalität beruht auch die Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT), welche eine Beratung bzw. Aufklärung, Entspannungstechniken, kognitive Verhaltenstherapie und evtl. Hörtraining umfasst. In mehreren Studien zeigten sich gute Erfolge und die Überlegenheit gegenüber Einzelmaßnahmen.
Viele Ängste der Patienten lassen sich bereits im Gespräch mit dem Hausarzt beseitigen. Denn Tinnitus ist, entgegen häufiger Befürchtungen, kein Vorbote für eine schwere Erkrankung wie etwa einem Schlaganfall. Bestehen weiterhin Ängste oder Depressionen aufgrund des Tinnitus sind Benzodiazepine bzw. Antidepressiva und Tranquillizer angeraten.
Liegt zusätzlich zum Tinnitus eine Schwerhörigkeit oder Ertaubung vor, hilft häufig ein Cochlea-Implantat (elektronische Hörprothese). Insbesondere über 70-Jährige profitieren von dieser Operation. Keinen Nutzen ergaben hingegen die Behandlungen mit Zink, Vitamin B12 oder dem Rezeptor-Antagonisten Neramexane, der in einer Phase-III-Studie scheiterte.