Noch immer bereitet es uns Ärzten große Schwierigkeiten, den Schmerz in all seinen Dimensionen zu erfassen. Nach der Definition der International Association for the Study of Pain (IASP) ist Schmerz ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktuellen oder potenziellen Gewebeschädigungen verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird [1].
Diese Definition verdeutlicht, welche vielschichtigen und komplexen Mechanismen bzw. Erlebnisse unter dem Begriff "Schmerz" zusammengefasst werden. Schmerzen sind ein Symptom und keine Diagnose. Was Schmerz tatsächlich ist, darüber kann die Wissenschaft nur spekulieren. Noch immer bereitet es ihr beträchtliche Schwierigkeiten, Schmerz zu erfassen und zu objektivieren. Darüber hinaus fehlen in der Definition der IASP wesentliche Komponenten, die in der modernen Schmerzmedizin grundsätzlich berücksichtigt werden sollten [2]:
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Die Unterscheidung zwischen akuten und chronischen Schmerzen.
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Die Berücksichtigung des individuellen Schmerzwahrnehmens und Schmerzverhaltens.
Schmerz ist nicht primär ein physiologisches Phänomen, er ist vielmehr als Gesamtheit aus physiologischen Abläufen, Schmerzerinnerung und psychischen Prägungen zu begreifen. Die emotionale Komponente ist hierbei nicht nur ein hinzukommendes Element zum getrennt ablaufenden körperlichen Vorgang, sondern ein integraler Teil der Schmerzerfahrung.
Schmerz als komplexes und vielschichtiges Phänomen ist eine subjektive Empfindung, die in unserem Gehirn stattfindet (ohne Bewusstsein gibt es keinen Schmerz), die durch eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren moduliert wird. Wie intensiv wir einen Schmerzreiz empfinden, hängt nicht nur vom fortgeleiteten Schmerzsignal zum Gehirn ab, sondern auch vom Zusammenspiel biologischer, psychologischer, kultureller und sozialer Faktoren.
Moderne Schmerztheorien bestätigen weitgehend dieses biopsychosoziale Modell der Schmerzentstehung. Krankheit und Gesundheit sind im biopsychosozialen Modell als ein dynamisches Geschehen definiert.
Wenn akuter Schmerz chronisch wird
Schmerz ist das, was wir alle kennen. Akute Schmerzen sind Erfahrungen unseres täglichen Lebens. Bei manchen Menschen jedoch wird Schmerz zu einem kontinuierlichen Begleiter, und der Übergang vom akuten in chronische Schmerzen wird fließend. Denken wir nur an langwirkende Rückenschmerzen ohne einen überzeugenden medizinischen Befund. Der Schmerz wirkt hierbei als zusätzlicher Stressor, der wiederum schmerzhafte Muskelverspannungen verursacht – ein Teufelskreis, der die Schmerzkrankheit erhält und die Betroffenen oft verzweifeln, ja depressiv werden lässt [3].
Fast die Regel sind depressive Störungen bei Schmerzpatienten mit Fibromyalgie [4], bei der sich nicht nur in den Muskeln, sondern auch an manchen Sehnenansätzen äußerst druckempfindliche tender points ausmachen lassen [5]. Obwohl sich an den tender points kein organischer Befund erheben lässt, ruft schon die leichteste Berührung sehr starke Schmerzen hervor. Der vom Patienten subjektiv empfundene Schmerz entspricht bei Weitem nicht dem medizinisch feststellbaren Befund.
Chronische Schmerzen hinterlassen Spuren im Gehirn und es bildet sich ein Schmerzgedächtnis aus.
Eine sorgfältige Schmerzanalyse ist immer der erste Schritt jeder Schmerzbehandlung. Die Differenzierung akuter und chronischer Schmerzen ist für die ärztliche Behandlung entscheidend und orientiert sich am zeitlichen Zusammenhang zwischen den Schmerzen und dem Verlauf der verursachenden Erkrankung (Tab. 1).
Für den betroffenen Patienten spielt eine solche Einteilung allerdings nur eine untergeordnete Rolle. Im klinischen Alltag werden anhaltende Schmerzen auch dann als chronisch bezeichnet, wenn eine bestimmte Dauer von drei oder sechs Monaten nicht erreicht wird.
Komplementäre Schmerztherapie
Die effektivste Behandlung chronischer Schmerzen ist ihre Prophylaxe. Eine kausale Therapie zur Linderung chronischer Schmerzen ist oft nicht möglich. Die symptomatische Schmerztherapie steht daher im Vordergrund. Es bleibt aber außer Frage, dass Schmerztabletten und andere Pharmaka nicht die einzig mögliche Antwort auf das Schmerzleiden sein können. Die Komplementär-medizin bietet eine Fülle von Möglichkeiten, um den schmerzgeplagten Patienten zu helfen. Man muss sie nur anwenden.
Das Ziel einer umfassenden Schmerzbehandlung ist es, innerhalb eines stufenweise aufgebauten Konzepts, den Schmerzkranken so früh wie möglich aktiv in den Therapieprozess einzubeziehen. Solch ein Ansatz erfordert neben umfassenden schmerztherapeutischen Kenntnissen auch profundes Wissen aus dem Bereich der Komplementärmedizin.
Solche Behandlungsansätze berücksichtigen Verfahren wie psychologische Schmerzbewältigungsstrategien, Entspannungsübungen, Stressbewältigungsverfahren, aber auch physikalische und manuelle Therapiemethoden und die Akupunktur. Beispielsweise liegt sowohl der physikalischen Medizin als auch der Akupunktur ein Reiz-Reaktionsprinzip zugrunde, welches die körpereigenen Fähigkeiten unterstützt.
In nahezu jeder Einrichtung, die Schmerzkranken eine multimodale Behandlung anbietet, gehört mindestens ein Entspannungsverfahren routinemäßig zur Behandlung. Der Arzt muss sich für die einzelnen Schritte der Behandlung entscheiden. Er muss Alternativen aufzeigen, Unzufriedenheit des Patienten, Ängste und Zweifel sowie ungeklärte Fragen thematisieren.
Integrative Schmerztherapie bedeutet, die individuellen Besonderheiten der betroffenen Patienten zu entdecken und diese angemessen bei der Schmerzbehandlung zu berücksichtigen. Durch Ablenkung von einem schmerzenden Ereignis – durch Achtsamkeitsübungen, Entspannungstechniken, Verhaltenstherapie, Kunst- und Musiktherapie, aber auch über intensiven Sport und Bewegung – können sich die Betroffenen in gewissem Maße vom Schmerzerleben distanzieren und die Schmerzschwelle erhöhen.
Einzelne pflanzliche Arzneien sind in ihrer schmerzlindernden Wirkung vergleichbar mit peripheren bzw. nicht steroidalen Analgetika und unterstützen die Behandlung.
Fazit für die Praxis
Ziel einer integrativen Schmerztherapie ist ein stufenweises, ganzheitliches Konzept. Dieser Ansatz erfordert schmerztherapeutische Kenntnisse, ein umfassendes Wissen der Komplementärmedizin und der Psychosomatik. Chronischer Schmerz ist und bleibt eine Herausforderung – für uns Ärzte und für den Patienten – gerade, weil Schmerzen oft nicht vollständig gelindert werden können. Das Ziel liegt auf einem gemeinsamen Weg: Schmerz zu lindern und trotz Schmerz ein lebenswertes Leben zu führen.
Tab. 1: Akuter versus chronischer Schmerz
Akuter Schmerz
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Krankheitssymptome
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Warnfunktion
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Tage bis Wochen andauernd
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Eindeutige Ursache diagnostizierbar
Chronischer Schmerz
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Eigenständige Schmerzkrankheit
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Keine Warnfunktion
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Monate bis Jahre andauernd
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Ausgangspunkt häufig insuffiziente Schmerztherapie eines ehemalig akuten Schmerzes
Buchtipp
Der Kompass durch den "Naturheilkunde-Dschungel"
Für niedergelassene Ärzte, die das Leistungsspektrum ihrer Praxis erweitern und Komplementärmedizin als unterstützende Komponente anbieten möchten, stellen sich zahlreiche Fragen. Welche Verfahren sind für mich und meine Praxis geeignet? Wie kann ich die Zusatzangebote in den Praxisalltag integrieren? Wie rechne ich die Leistungen ab? Welche Zusatzbezeichnungen kann oder muss ich erwerben?
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Der Autor ist niedergelassener Arzt. Er verfügt über langjährige Erfahrung in der Komplementärmedizin, kennt die Chancen, aber auch die Fallstricke und überzeugt durch die anschauliche und besonders praxisnahe Darstellung.
Matthias Frank: Komplementärmedizin in der Arztpraxis. Akupunktur, Homöopathie und Naturheilverfahren erfolgreich anwenden. Zertifiziert von der Stiftung Gesundheit. Schattauer 2015. 277 Seiten, 13 Abb., 18 Tab. ISBN: 978-3794530793. 34,99 Euro
Literatur
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- Merskey H, Bogduk N. Classification of chronic pain. 2nd Edition. Seattle: IASP Press; 1994.
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- Brock F.E (Hrsg.) mit Beitr. von Auer A et al. Handbuch der Naturheilkundlichen Medizin. Ausbildung, Klinik, Praxis. Landsberg: ecomed 1998.
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- Rüegg JC. Hirnphysiologische Aspekte psychosomatischer Schmerzen. In: Jenny R, Traber Y (Hrsg). Wo beginnt Heilung? Kritische Ansätze in der Therapie somatoformer Srörungen. Berlin: Weissensee 2008;19-32.
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- Flor H. Comorbid depression and anxiety in fibromyalgia syndrome: relationship to somatic and psychosocial variables. Psychosom Med 2004; 66:837-84.
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- Heinl H, Heinl P. Körperschmerz – Seelenschmerz. Die Psychosomatik des Bewegungssystems. Ein Leitfaden. München: Kösel-Verlag 2004.
Interessenkonflikte: keine