Jedes Jahr sind hierzulande fast 28 Prozent der Erwachsenen von einer psychischen Erkrankung betroffen – das heißt, mehr als jeder Vierte bzw. rund 17,8 Millionen Menschen erfüllen die entsprechenden Kriterien. Zu den häufigsten Diagnosen zählen Angststörungen, gefolgt von affektiven Störungen wie etwa Depressionen, die alleine über 8 Prozent aller psychischen Erkrankungen ausmachen. Die Antidepressiva stehen stellvertretend für zahlreiche Psychopharmaka: Denn einerseits stehen zahlreiche Substanzen zur Verfügung – etwa trizyklische Antidepressiva, selektive Serotonin-Rückaufnahme-Inhibitoren (SSRI), Monoaminoxidase (MAO)-Inhibitoren (MAOI) oder selektive Serotonin-/Noradrenalin-Rückaufnahme-Inhibitoren (SSNRI) – andererseits gehen sämtliche Antidepressiva mit teilweise erheblichen Nebenwirkungen einher und decken oft nicht alle Symptome ab. Daher sind neue, wirksamere und besser verträgliche Medikamente in der Ärzteschaft höchst willkommen.
Nasenspray gegen Depression
Für Patienten mit therapieresistenten Depressionen könnte demnächst eine Substanz mit neuem Wirkmechanismus zur Verfügung stehen. Dabei handelt es sich um den Glutamat-Rezeptormodulator Esketamin, einem S-Enantiomer von Ketamin, welches als Narkose- und Schmerzmedikament schon länger bekannt ist. Die US-Arzneimittelbehörde FDA hat das esketaminhaltige Nasenspray kürzlich zugelassen, in Kombination mit einem oralen Antidepressivum. Er ist Patienten mit schweren Depressionen vorbehalten, die bereits zwei erfolglose Therapieversuche mit Antidepressiva hinter sich haben. Aufgrund von Nebenwirkungen wie Schwindel, Bluthochdruck oder Sedierung muss die Anwendung unter ärztlicher Aufsicht erfolgen. Ein Vorteil ist der rasche Wirkeintritt und dass Patienten, die darauf ansprechen, deutlich länger in Remission bleiben als mit Placebo. Die Wirkung führt man auf eine Verbesserung der synaptischen Plastizität zurück, die bei Patienten mit Depression gestört ist. Ob das Nasensprayin Deutschland auf den Markt kommt, steht noch nicht fest.
Als herben Rückschlag betrachten viele Ärzte die Marktrücknahme von Vortioxetin. Das erst 2016 in Deutschland zugelassene multimodale Antidepressivum weist mehrere pharmakologische Angriffspunkte auf. In zahlreichen klinischen Studien bei Patienten mit Major Depression erwies sich Vortioxetin als überlegen versus Placebo und gegenüber Vergleichssubstanzen wie Agomelatin. Als erstes Antidepressivum zeigte die Substanz auch günstige Effekte auf kognitive Funktionen und war zudem gut verträglich. Doch der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) erkannte keinen Zusatznutzen und der Hersteller nahm das Produkt in Deutschland aufgrund einer zu geringen Gewinnspanne vom Markt.
Kontroverse Ansichten
Wie viele Psychopharmaka haben auch die Antidepressiva einen schlechten Ruf in der Öffentlichkeit. Immer wieder erscheinen Artikel in den Tageszeitungen, die darauf hinweisen, wie schwierig es ist, von einer langfristigen Therapie mit Antidepressiva wieder wegzukommen. “Tatsächlich leiden viele Patienten unter Absetzsymptomen”, bestätigte Prof. Gerhard Gründer aus Mannheim, der dieses Problem gar nicht “wegdiskutieren möchte”, sondern nach Möglichkeiten sucht, den Patienten zu helfen.
Die Frage der Wirksamkeit von Antidepressiva ist umstritten. Hierzu erschien im Jahr 2018 eine umfangreiche Metaanalyse in Lancet. Die Autoren verglichen die Wirkung gängiger Antidepressiva mit der von Placebo, indem sie 522 Studien mit über 116.000 Patienten analysierten. Dabei stellten sie fest, dass alle untersuchten Substanzen wirkungsvoller waren als das Scheinmedikament. “Aufgrund dieser Daten, halte ich es nicht für gerechtfertigt, dass die Psychophamakotherapie quasi als Auslaufmodell gesehen wird”, erklärte Prof. Hans-Peter Volz, Werneck. Dem hielt Gründer die relativ geringe mittlere Effektstärke von 0,3 entgegen, welche in der Metaanalyse ermittelt wurde.
Gründer verwies zudem auf weitere Studien, die zeigten, dass jeder dritte Patient unter einem Antidepressivum einen Rückfall erleidet. Zugleich vermittelte das untersuchte Antidepressivum nur einen um 13 Prozent höheren Schutz vor einem Rückfall verglichen mit Placebo. “Das kann nicht reichen”, konstatierte Gründer und forderte: “Wir müssen uns fragen, was wir machen können, um die Psychophamakotherapie zu verbessern.”