Für eine komplette Abstinenz von Alkohol, Cannabis und Kokain plädierte Dr. Maximilian Meyer aus Basel in seinem humorvollen Kurzreferat. “Hinsichtlich der Mortalität ist die absolute Abstinenz von Alkohol nicht zu schlagen”, betonte der Psychiater.
Er verwies auf eine Metaanalyse, in der die Alkohol-Abstinenz mit einem deutlich reduzierten Risiko für Mortalität einherging [1]. Das relative Risiko (OR) lag bei 0,35 für Personen, die eine Abstinenz erreichten, gegenüber 0,61 für solche, die ihren Konsum lediglich reduzierten.
“Auch beim Cannabis-Konsum ist die Abstinenz weiterhin brandaktuell”, so Meyer. Denn der Konsum von Cannabis kann zu reduzierter Gedächtnisleistung, Amotivationalem Syndrom, Depressions- und Psychoserisiko sowie dem Hyperemesis-Syndrom führen.
Bei der Aufrechterhaltung der Abstinenz helfe am besten eine Kombination aus Verhaltenstherapie, Kontingenzmanagement und Motivational Interviewing (MI).
Der Konsum von Kokain gehe mit teilweise lebensbedrohlichen körperlichen und psychischen Folgen einher, wie Myokardinfarkte, zerebrale Blutungen oder substanzinduzierte Psychosen.
Eine Substitution z.B. mit Methylphenidat zeigte in kontrollierten klinischen Studien bislang keine zufriedenstellenden Ergebnisse [2]. “Als Suchtspezialisten muss es unser oberstes Ziel sein, abhängige Menschen vor den für sie schädlichen Substanzen zu schützen”, forderte Meyer.
Den Contra-Vortrag übernahm Prof. Daniele Zullino aus Genf. Dem Psychologen zufolge bedeute Suchtbehandlung nicht, nicht zu konsumieren, sondern sei vielmehr eine Unterbrechung des Gewohnheitsmusters, eine Neubewertung der Beziehung zur Versuchung sowie die Eröffnung neuer Perspektiven und Möglichkeiten.
Wenn es nur ein perfektionistisches alles oder nichts-Denken gebe, sei der Rückfall unvermeidlich. “Das Ziel der Behandlung ist nicht die Abstinenz, sondern Eigenkontrolle der Patienten”, erklärte Zullino.
Behandlung unter Zwang?
In manchen Fällen werden therapeutische Maßnahmen gegen den Willen der Betroffenen angeordnet, etwa bei starker Selbstgefährdung oder wenn eine Straftat im Zusammenhang mit einer Sucht vorliegt. “Auf ein Delikt, muss eine Sanktion folgen”, bekräftigte Dr. Friederike Höfer, Zürich.
Als Delikt gilt aus forensischer Sicht auch die Einnahme von Betäubungsmitteln – da dadurch andere Menschen in Mitleidenschaft gezogen werden können. Bei vermindert Schuldfähigen oder Schuldunfähigen steht die Behandlung anstelle oder zusätzlich zur Strafe.
“Diese Behandlung entspricht einer Sanktion, die mit einem gewissen Zwang durchgesetzt werden muss”, so Höfer. Denn insbesondere Männer würden sich ungern freiwillig in Psychotherapie begeben und dafür einen (leichten) Zwang benötigen.
Ein “door opener” ergibt sich laut Höfer aus dem Umstand, dass die Betroffenen die Behörden und nicht den Therapeuten für den Zwang verantwortlich machen. “Im Zwangskontext helfen die gleichen Parameter wie sonst, nämlich Fürsorge, Fairness, Vertrauen und Verbindlichkeit”, erklärte die forensische Psychiaterin.
Die entgegengesetzte Meinung vertrat Prof. Markus Backmund, München. Eine Behandlung unter Zwang sei verlorene Liebesmüh, denn diese Art der Therapie zeige keine Nachhaltigkeit und würde das Recht auf Selbstbestimmung und Autonomie massiv einschränken.
Schon die Sucht alleine verursacht Backmund zufolge bei den Betroffenen großen Stress. Fühlen sich die Patienten durch äußeren Zwang zusätzlich in ihrer Handlungs- und Entscheidungsfreiheit eingeschränkt, erhöhen sich Stress und innerer Widerstand was bei stationären Suchttherapien letztlich oft zum sogenannten “Drehtüreffekt” führe.
Im Gegensatz zu Höfer ist Backmund der Ansicht, dass Zwang den Aufbau einer therapeutischen Beziehung und somit den Therapieerfolg verhindert.
Substitution bei Stimulanzienabhängigkeit?
Bei illegal hergestellten Drogen wie Amphetaminen bestehe die große Gefahr, dass der Konsument nicht weiß, welche Substanzen in welchen Konzentrationen enthalten sind, erklärte die Psychiaterin Christel Lüdecke, Göttingen.
Dagegen gebe es verschreibungspflichtige Medikamente wie zum Beispiel Lisdexamphetamin, das für ADHS-Patienten zugelassen ist und zur Substitutionsbehandlung eingesetzt werden könne.
Damit lässt sich zunächst eine medizinische Schadensbegrenzung bzw. eine Überlebenssicherung erreichen – indem man Folge- oder Begleiterkrankungen behandelt und den Beschaffungsdruck von den Betroffenen nimmt. Der nächste Schritt ist die Stabilisierung der Lebenssituation (Entgiftung, Vermittlung einer Langzeittherapie) und schließlich die Reintegration ins Berufsleben.
Bei ADHS-Patienten mit einem komorbiden Suchtmittelproblem ist die Evidenz für eine erfolgreiche Substitutionsbehandlung relativ hoch. So erreichten Patienten mit ADHS und Kokainabhängigkeit unter Substitution eine dosisabhängige Verminderung des Substanzkonsums und eine Verbesserung der ADHS-Symptomatik [3].
Bei Kokainabhängigen gibt es laut Lüdecke erste Erfolge mit der Substitution, jedoch insgesamt wenig Evidenz.
High-Risk-Therapie?
“Stimulanzien machen auf Dauer psychisch kaputt!”, hielt Dr. Katharina Schoett aus Mühlhausen in Thüringen dagegen. Bei einer längerfristigen Einnahme komme es z.B. zu Impulsivität, Störungen der Exekutivfunktion sowie zu Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen – was eine Wiedereingliederung in die Erwerbstätigkeit erschwere.
Explizit ausgenommen sind davon laut Schoett ADHS-Patienten. “Auch die Leitlinien votieren ganz klar dagegen, eine langfristige Substitution z.B. mit Amphetamin durchzuführen”, erklärte die Psychiaterin, welche die Substitution als High-Risk-Therapie ablehnt.
Literatur:
- Roerecke M et al. J Clin Psychiatry 2013; 74(12):e1181-9
- Dürsteler KM et al. Subst Abuse Rehabil 2015; 6: 61-74
- Levin FR et al. JAMA Psychiatrie 2015; 72(6):593-602
Quelle: 23. interdisziplinärer Kongress für Suchtmedizin: Debattensymposium am 30.06.2023 in München