Stigmata erkennen und bewusst gegensteuern – das ist bei psychischen Krankheiten besonders wichtig. Denn hier stellt Stigmatisierung ein enormes Behandlungshindernis dar.
Vielen Patienten fällt es schwer, ihre psychischen Probleme in der Sprechstunde zu thematisieren. Denn psychische Krankheit ist nach wie vor mit einem Stigma behaftet.
Allerdings gilt das nicht für alle Krankheiten in gleichem Ausmaß: So ist es in den letzten Jahren leichter geworden, über manche Symptome einer Depression zu sprechen, etwa über Antriebslosigkeit, Interessenverlust, gedrückte Stimmung und Erschöpfung.
Nach wie vor tabuisiert sind jedoch unter anderem Zwangsstörungen, Psychosen oder Suchtkrankheiten. Auch einzelne Symptome können stigmatisiert sein, etwa Suizidalität. Stigmatisierung ist ein enormes Behandlungshindernis [1]: Symptome werden verschwiegen, bagatellisiert, auf körperliche Leiden fehlattribuiert oder übersehen [2].
Um Menschen mit psychischen Krankheiten besser behandeln zu können, ist es wichtig, zu verstehen, auf welche Weise Stigmatisierung gute Behandlung erschwert.
Wie wirkt Stigmatisierung?
Stigmatisierung ist ein Konzept aus der Soziologie. Erwing Goffman [3] hat es in den 60er Jahren eingeführt, um zu verstehen, warum bestimmte Gruppen von Menschen benachteiligt werden; seitdem wurde es stetig weiterentwickelt. Heute verstehen wir Stigmatisierung als einen sozialen, kognitiven und emotionalen Prozess, dessen einzelne Schritte eng ineinandergreifen und in der Ausgrenzung und Abwertung einer Gruppe von Menschen resultieren [4].
Zunächst wird ein Mensch aufgrund einer bestimmten Eigenschaft als ganze Person etikettiert (“Labeling”), und dann mit negativen Stereotypen in Verbindung gebracht, um schließlich ausgegrenzt und diskriminiert zu werden. Labeling ist wichtig: Es macht zum Beispiel einen Unterschied, ob mich mein Umfeld als Person sieht, die “viel verträgt” und gerne feiert, oder ob es mich als Alkoholiker einordnet.
Sobald ich mit dem Label “Alkoholiker” in Verbindung gebracht werde, werden mir verallgemeinernd bestimmte negative Eigenschaften zugeschrieben, ich werde in eine Schublade gesteckt. Ich bin dann ein “Alkoholiker” und werde entsprechend abwertend behandelt.
Drei Formen von Stigmatisierung
Der Prozess der Stigmatisierung wirkt auf verschiedenen Ebenen. Öffentliches Stigma bezeichnet die negativen Haltungen der Öffentlichkeit, die dazu führen, dass Patienten mit psychischen Krankheiten im Kontakt mit anderen Menschen Diskriminierung und Abwertung erfahren. Selbststigmatisierung bedeutet, dass auch Menschen mit psychischen Krankheiten die gängigen Vorurteile und Haltungen der Allgemeinheit verinnerlicht haben.
Sobald sie sich selbst der stigmatisierten Gruppe zuordnen, müssen sie sich mit ihren eigenen abwertenden Haltungen auseinandersetzen. “Bin ich jetzt wirklich einer von denen?”. Selbststigmatisierung führt zu stärkeren psychischen Symptomen, geringerer Selbstwirksamkeit, Pessimismus hinsichtlich der eignen Prognose bis hin zu stärkerer Suizidalität [5].
Die dritte Ebene der Stigmatisierung ist das strukturelle Stigma. Es gibt Regeln und Abläufe, die zum Nachteil bestimmter Gruppen wirken, auch wenn die beteiligten handelnden Personen gar keine bösen Absichten haben. Ein Beispiel für strukturelle Stigmatisierung sind die Nachteile beim Abschluss einer Lebens- oder Berufsunfähigkeitsversicherung, wenn eine psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung oder eine psychiatrische Diagnose aktenkundig geworden ist.
Tabelle 1 (siehe unten) fasst zusammen, wie die drei Ebenen der Stigmatisierung zum Nachteil der Patienten wirken. Dabei ist hervorzuheben, dass Stigmatisierung nicht nur dann wirkt, wenn sie als faktische Benachteiligung ausgeübt und erlebt wird, sondern auch dann, wenn sie die Betroffenen erwarten und deshalb vermeiden.