© Peter Pulkowski Professor Manfred E. Beutel ist Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsmedizin Mainz
Wichtig für Hausärzte sind natürlich die digitalen Gesundheitsanwendungen, die im BfArM-Verzeichnis enthalten und somit erstattungsfähig sind. Damit eine Verordnung Sinn macht, ist es aus meiner Sicht jedoch nötig, dass die Patienten sich auch wirklich dafür interessieren.
Die Zugangsvoraussetzungen haben heute ja die meisten; das Hauptproblem ist aber, dass viele die Anwendungen nicht oder nicht konsequent genug nutzen. Es ist eben verbindlicher, einen festen Termin bei einem Therapeuten zu haben. Eine DiGA setzt ein hohes Maß an Eigeninitiative voraus. Aber es gibt durchaus Patienten, die sehr internetaffin sind und es schätzen, zeitlich und räumlich flexibel zu sein. Hier gilt es also, abzuwägen und sich mit den Patienten zu beraten.
Studien berichten über ähnlich gute Effekte wie bei persönlichen Psychotherapien. Kann eine Online-Anwendung als alleinige Behandlung ausreichen?
Es gibt gute Wirksamkeitsdaten, diese sind jedoch mit Vorsicht zu betrachten. Bei den meisten Studien wurden die Patienten über das Internet rekrutiert. Das heißt, man kann nicht folgern, dass die Therapien auch in der üblichen Versorgung genauso funktionieren und die Patienten konsequent genug mitmachen. Wir empfehlen Online-Therapien daher nicht als alleinige Maßnahme. Als Ergänzung sind sie jedoch sinnvoll.
Laut Leitlinie werden Angsterkrankungen oft übersehen. Der Hausarzt ist für viele Patienten der erste Ansprechpartner; haben Sie Tipps für die Diagnosestellung?
Menschen mit Ängsten sind generell sehr häufig in der Hausarztpraxis. Unter den von psychischen Erkrankungen Betroffenen sind sie diejenigen, die am häufigsten kommen, oft allerdings unter dem “verkehrten Vorzeichen”. Vor allem bei Panikstörungen präsentieren sie körperliche Symptome wie Herzklopfen, Herzrasen, Herzstolpern oder Schwindelgefühle.
Menschen mit generalisierter Angststörung stellen sich oft mit Schlafstörungen, muskulären Verspannungen oder Schmerzsyndromen vor. Oft sagen sie nicht direkt, dass sie Angst haben, weil sie die Angst nicht als Auslöser, sondern als Folge ihrer Symptome sehen. Viele Patienten mögen sich die Diagnose auch nicht eingestehen und halten lieber an der körperlichen Erkrankung fest.
Hilfreiche Materialien
Deutsche Übersetzung und Validierung des „Patient Health Questionnaire (PHQ)“ durch B. Löwe, S. Zipfel und W. Herzog, Medizinische Universitätsklinik Heidelberg: www.hausarzt.link/m5g1B
Themenblatt der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) „Angststörung – was ist das?“ www.hausarzt.link/cgjfk
AWMF-Patientenleitlinie „Behandlung von Angststörungen“: www.hausarzt.link/FDmKC
Ich würde daher nicht den Ärzten die Schuld dafür geben, dass Angststörungen oft zu spät erkannt werden. Aber es ist natürlich wichtig, diese Diagnose frühzeitig in Betracht zu ziehen und das auch wirklich gut und offen mit dem Patienten zu besprechen. Wir sehen viele Patienten, die eine lange Odyssee mit vielen unnötigen Untersuchungen hinter sich haben. Wobei es natürlich wichtig ist, somatische Begleiterkrankungen abzuklären.
Die Leitlinie schlägt für die Diagnosestellung ein Prozedere vor, welches auch Screening-Fragen enthält. Untermauern lässt sich das zusätzlich durch spezielle Fragebögen, die frei verfügbar sind. Ein Beispiel ist der Patienten-Gesundheitsfragebogen mit sehr guten Modulen für Depression und Angststörung. Manchmal helfen diese Fragebögen auch den Patienten, sich über ihr Störungsbild klarer zu werden.
Wie gelingt es, die Patienten bei der Diagnosestellung gut einzubeziehen – auch dann, wenn er oder sie von einer somatischen Erkrankung ausgeht?
Jemand, der auf eine Herzsymptomatik fixiert ist, braucht unter Umständen ein bisschen Zeit und Überzeugung, um zu erkennen, dass es sich um eine Panikstörung handelt. Ich finde es immer hilfreich, wenn die Patienten selbst über ihre Erkrankung nachlesen können. Es gibt zum Beispiel eine gute Patientenleitlinie und eine BZgA-Info zu Angststörungen.
Als Hausarzt würde ich solche Flyer oder Texte auslegen und den Patienten auch geben. Das spart einerseits Behandlungszeit, andrerseits sind die Patienten überzeugter, wenn sie sich selbst kundig gemacht haben. Die meisten recherchieren ja ohnehin im Internet und dann ist es besser, sie schauen gleich an den richtigen Stellen.
Es muss nicht gleich eine DiGA sein, aber digital verfügbare Informationen können Patienten wirklich helfen. Damit sie zunächst verstehen, was sie überhaupt haben.
Und was gilt es bei der Wahl der Behandlungsmethode zu beachten?
Eine entscheidende Rolle spielt die Präferenz des informierten Patienten. Viele Angstpatienten fürchten sich zum Beispiel vor den Nebenwirkungen der Medikamente. SSRI oder SNRI können ja gerade zu Beginn Übelkeit und Schwindel verursachen, was den Angstsymptomen ähnelt.
Stimmen Patienten einer medikamentösen Therapie zu, ist es wichtig, sie zu begleiten und ihnen die Angst zu nehmen, dass diese Nebenwirkungen gefährliche Symptome sind. Sonst kann es passieren, dass sie in Panik geraten und die Medikamente nicht nehmen. Und letztendlich behaupten dann viele Patienten, alle möglichen Medikamente nicht vertragen zu haben, der Arzt weiß aber gar nicht, ob sie es wirklich konsequent versucht haben. Wir empfehlen daher, bei einer medikamentösen Therapie mindestens zwei bis drei Wochen abzuwarten, bis eine entsprechende Wirkung eintritt.
Psychotherapie ist aktuell oft schwierig, weil die ambulante Versorgung sehr überlaufen ist. Die Patienten müssen zum Teil sehr lange warten oder bekommen keinen angemessenen Therapieplatz, sodass sich dann die Frage nach der Überbrückung mit einer DiGA oder mit Medikamenten stellt.
Gerade bei leichten Angststörungen spielt natürlich auch die ärztliche Führung und Betreuung eine riesige Rolle. Viele Hausärzte sind ja für die psychosomatische Grundversorgung qualifiziert und sehr wohl in der Lage, Angstpatienten so zu führen, dass sie lernen, mit ihrer Erkrankung umzugehen.
Laut Leitlinie verbleibt ein Drittel der Patienten ausschließlich beim Hausarzt. Wann ist eine fachspezifische Behandlung nötig?
Hierfür listen wir in der Leitlinie mehrere Indikationen auf. Nötig ist eine fachspezifische Behandlung zum Beispiel, wenn Patienten wegen ihrer Angst nicht mehr arbeiten können, soziale Beziehungen gestört sind oder andere psychische Erkrankungen dazukommen, etwa eine Depression, Suizidalität oder Missbrauch von Sucht- und Beruhigungsmitteln.
Angststörungen treten ja relativ früh im Leben auf und die psychischen Folgestörungen können sehr schwerwiegend sein.