Corona hat die Deutsche Interprofessionelle Vereinigung – Behandlung im Voraus Planen (DiV-BVP) zu einem Kurswechsel veranlasst: Seit Mitte April kann jeder auf www.div-bvp.de Dokumentationsbögen zur Vorausplanung für den Notfall und einen Leitfaden herunterladen. Bislang standen diese nur nach einer Schulung zur Verfügung: Nicht-ärztliche Gesprächsbegleiter bildet die DiV-BVP in neun Tagen aus, Ärzte als Supervisoren brauchen einen Kurs von acht bis 16 Stunden.
Das bereitet Prof. Jürgen in der Schmitten, Hausarzt und Vorstandsmitglied der DiV-BVP, Bauchschmerzen, erzählt er gegenüber “Der Hausarzt” (s. Interview). “International ringen wir um die Qualifikation zur Vorausplanung, weil Corona die Dringlichkeit dafür so erhöht hat.” Andererseits könne das helfen, dass Advance Care Planning (ACP) bundesweit und nicht nur in ausgewählten Heimen Fuß fasst. Denn bisher haben nur Einrichtungen der vollstationären Pflege oder Eingliederungshilfe Anspruch auf das Angebot nach Paragraf 132g SGB V.
Meist sprechen Patienten, Angehörige und ein Gesprächsbegleiter mehrmals, bis die Vorstellungen, Bedürfnisse und Wünsche des Patienten zu Leben, Sterben und möglichen Maßnahmen klar sind. Hausärzte übernehmen die Supervision, helfen also bei medizinischen Fragen und bestätigen die Einwilligungsfähigkeit. Wenn sie dafür geschult sind, können sie auch selbst Gesprächsbegleiter sein. Zur Fortbildung bietet die DiV-BVP daher seit Ende April kostenfrei Webinare und moderierte Online-Foren an. Die Webinare sollen später als Aufzeichnungen bereitstehen. An einer Zertifizierung durch die Ärztekammer wird gearbeitet. “Die Onlineschulung qualifiziert Hausärzte bereits für die Supervision. Wir wollen Basis- und Fortgeschrittenen-Module anbieten und hoffen dadurch, dass Hausärzte auch nach Corona an der Vorausplanung interessiert bleiben”, sagt in der Schmitten.
Im Corona-Strudel kann der Blick für den Patientenwunsch verloren gehen. Patientenverfügungen greifen oft nicht. Was ist bei BVP anders?
Prof. Jürgen in der Schmitten: Konventionell, das heißt unter Verwendung der verbreiteten Formulare und ohne spezifische Beratung, entstandene Patientenverfügungen beschränken sich meist auf todesnahe Zustände, in denen in Wahrheit kaum mehr etwas zu entscheiden ist. Daher leisten sie oft nicht das, was sich Patienten wünschen. Dagegen geht Behandlung im Voraus Planen (BVP) vom aktuellen Zustand des Patienten aus und bespricht aus dieser Sicht auch Szenarien, in denen eine Chance auf Besserung besteht.
Dafür brauchen BVP-qualifizierte Ärzte und Gesprächsbegleiter eine andere Haltung: Wir müssen Patienten erst für eine Entscheidung befähigen, bevor wir nach ihren Wünschen fragen. Neben der Aufklärung über Chancen und Risiken der Optionen brauchen Patienten Zeit, um die schweren Fragen zu bewältigen. Ebenso sollten Angehörige dabei sein, weil wir alle für gute Entscheidungen den Austausch mit unseren Liebsten brauchen.
Vorausplanung kommt also eigentlich für jeden infrage?
Grundsätzlich ja. Die Gespräche sind aber aufwändig. Es gibt bisher zu wenige BVP-Gesprächsbegleiter. Hausärzte sind daher gerade oft die einzigen, die diese Beratung übernehmen. Das ist eine enorme zeitliche Herausforderung. Wir müssen Aufwand und Nutzen abwägen.
20- bis 30-Jährige werden dies in den nächsten zehn Jahren selten brauchen und wünschen sich meist die komplette Intensivmedizin. Je chronisch kränker, fragiler Menschen werden, desto geringer werden die Erfolgschancen einer Intensivbehandlung und desto mehr nehmen sie neben der Qualität des Lebens auch die Umstände, unter denen sie sterben möchten, in den Blick. Daher wollen viele die Behandlung begrenzen.
Welche Vorteile bietet Vorausplanung hier?
Neben der Akutversorgung ist es für mich mit das Wichtigste, das wir Patienten anbieten. Langfristig spart BVP sogar auch Zeit, nämlich in Momenten, wo keine Zeit für lange Gespräche mit Patienten und Angehörigen mehr bleibt. Ist ihr Wille gut dokumentiert, entlastet es Hausärzte emotional und erleichtert etwa die Entscheidung, Einweisung oder nicht.
Werden Angehörige entlastet?
Ja, weil sie nicht für den Patienten entscheiden müssen, ohne zu wissen, wie dieser fühlt. Wir klären nicht alle möglichen Krankheiten und Details, sondern Szenarien, Verläufe und Prognosen. Der Zauber der BVP-Gespräche liegt in den oft guten Dialogen der Patienten mit ihrer Familie, in denen diese erlebt, wie ihr Vater sagt: “Das möchte ich (nicht), verstehst du das?”
Es gibt eine randomisierte kontrollierte Studie zur Vorausplanung bei hochbetagten Klinikpatienten (DOI: 10.1136/bmj.c1345). Nach sechs und zwölf Monaten schnitten Angehörige von Verstorbenen in der BVP-Gruppe bei Depressions- und Traumascores deutlich besser ab und fühlten sich weniger belastet. Wer die Daten kennt, ist entsetzt, dass Vorausplanung keine Regelleistung der Kassen ist.
Die Ethikkommission der BÄK betont, dass Patienten nicht das Gefühl vermittelt werden darf, sie müssten sichentscheiden, wenn Ärzte sie auf BVP ansprechen. Erschwert Corona das?
Corona ängstigt manche Risikopatienten so sehr, dass es schwer ist, mit ihnen in Ruhe zu sprechen. Gerade bei Coronaerkrankten ist es wertvoll, wenn Hausärzte auf Vorgesprächen aufbauen können, wenn man sie jetzt darauf anspricht, dass es wahrscheinlicher wird, dass sie eine Beatmung brauchen könnten.
Auch können durch Corona Ressourcen in Kliniken schnell knapp werden. Daher wurde von vielen Seiten an die DiV-BVP herangetragen, die BVP-Dokumente ins Netz zu stellen. Das bereitet mir große Bauchschmerzen, weil nicht jeder für die Gespräche qualifiziert ist. Ich überspitze jetzt bewusst bezogen auf unser Gesundheitssystem: Bisher waren die Alten gut genug, ungefragt die Intensivstationen zu füllen, sie waren gute Beitrags- und Leistungszahler. Jetzt interessiert sich plötzlich jeder für ihre Wünsche, weil Ressourcen fehlen könnten. Das kann die Gespräche verdächtig wirken lassen.
Vorausplanung ist aber keine Triage! Triage gehört nicht in den ambulanten Bereich. Den Patienten müssen wir transparent kommunizieren, Corona ist nur der Anlass, warum wir ein Gespräch anbieten, es besteht aber keine Pflicht zur Entscheidung. Bei BVP spielt Corona keine Rolle, weil es um die Einstellungen zu Leben, Sterben und Behandlung geht. Erst wenn das geklärt ist, könnte man die individuellen Chancen und Risiken einer Beatmung bei Covid-19 besprechen.
Wie gelingt es, keinen Druck auszuüben?
Das ist die große Kunst. Wir sprechen mit Patienten über ihre Prognose, machen aber auch klar, dass sie Anspruch auf alle Leistungen haben. Es sei denn, sie wünschen sich etwas anderes. Dafür vermitteln wir in den Schulungen Techniken. Sobald der Patient zu einer Seite neigt, machen wir ihn auf ein Argument der anderen Seite aufmerksam, um alles zu beleuchten, damit er den richtigen Weg für sich finden kann.
Immer wieder wird vor BVP gewarnt, weil das Angebot allein schon Druck erzeuge. Das bestätigt sich aus meiner Erfahrung nicht. Vielmehr rechnen viele fragile Patienten gar nicht damit, dass man sie beatmen würde. Wir erklären ihnen, dass sie selbstverständlich darauf Anspruch haben. Das müssen sich auch Ärzte bewusstmachen – diese innere offene Haltung des Arztes ist das wichtigste für ein Gespräch ohne Druck. Dies ist Ärzten aber nur möglich, wenn sie wissen, dass Patienten informiert sind. Es bedingt sich also gegenseitig. Wer keine BVP möchte, dem sage ich: “Das ist ok! Mir ist nur wichtig, dass Ihnen klar ist, dass der Notarzt dann in der Regel eine lebensrettende Therapie wählen wird.”
Denken wir an eine 92-jährige Heimpatientin. Jüngst starb ihr Mann. Nach einem Oberschenkelhalsbruch hat sie sich zurückgekämpft und ist mit Rollator mobil. Sie ist wenig fragil und strahlt großen Lebenswillen aus. Worauf kommt es beim Gespräch an?
Das ist jetzt stark verkürzt. Die Vorausplanung umfasst grob drei Schritte. Die Einstellungen zu Leben und Sterben können Ärzte als Koordinaten betrachten, in die sie Behandlungswünsche einordnen. Die Fragen kann ich nicht einfach abarbeiten und bekomme eine Antwort. Vielmehr sind sie wie Überschriften zum Austausch, der durch weitere Exploration in die Tiefe geht. Das braucht besondere Gesprächskompetenzen. Es gilt, Vertrauen aufzubauen, sozial erwünschte Antworten zu erkennen und verschiedene Argumente aufzuzeigen, bis alles beleuchtet ist. Oft muss ich mehrmals fragen, bis Patienten sagen, was sie wirklich denken.
Was sind die Schritte?
1. Therapieziel klären: Es geht um Einstellung, Lebenswillen und Auftrag an die Medizin. Hier werden nicht einzelne Maßnahmen besprochen! Wie gerne lebt unsere Patientin und noch relevanter, wie wichtig ist es ihr, noch lang weiterzuleben? Was bedeutet eine lebensgefährliche Krankheit für sie? Wartet sie gar auf den Tod? Wenn sich Menschen den Tod wünschen, würde ich eine Depressionsdiagnostik anschließen. Bei Älteren tut sich aber häufig eine Kluft auf: Sie leben aktuell gern, aber das “Morgen” verliert an Bedeutung. Wir erfahren, was für sie das Leben lebenswert macht.
Nun wird das Ganze gespiegelt: Was kommt der Seniorin in den Sinn, wenn sie an den Tod denkt? Mitunter zeigen sich Ängste oder andere Emotionen, die ich vorrangig würdigen muss, damit eine Befähigung überhaupt möglich ist. Abschließend frage ich konkret: Wenn ich ihr mitteilen könnte, dass sie heute stirbt. Was würde das jetzt bei ihr auslösen? Nicht selten hören wir dann, warum derjenige vom Leben gesättigt ist und der Tod als Freund willkommen sein könnte.
2. Behandlung im Notfall besprechen: Was soll Medizin dazu beitragen, dass sie noch lange lebt? Viele wünschen sich, noch lange zu leben, und Medizin soll sie dabei unterstützen. Viele äußern aber auch Sorgen, was auf keinen Fall geschehen soll. Wenn Angehörige dabei sind, entwickelt sich oft ein intensiver Austausch.
Unsere 92-Jährige würde es bedauern, wenn der Tod heute Nacht käme. Darauf aufbauend erkläre ich ihr dann, dass wir jetzt besprechen, wie sie in einem Notfall versorgt werden möchte.
Hier zeigt sich der Unterschied zur Patientenverfügung, die für hypothetische Szenarien wie Wachkoma oder schwerste Demenz plant. Bei BVP berücksichtigen wir zusätzlich das Vorgehen in gesundheitlichen Krisen, die vom jetzigen Zustand heraus auftreten könnten, etwa eine Covid19-Pneumonie oder ein Schlaganfall. Aus dieser Perspektive ordnet sie ein, was im Notfall passieren soll oder nicht. Zuerst klären wir die Richtung: Möchte sie überhaupt lebensverlängernd behandelt werden? Dann klären wir das “Verkehrsmittel”. Um im Bild zu bleiben: Möchte sie auf egal welchem Weg dorthin oder nur, wenn ein durchgehender Zug fährt? Wir besprechen Chancen, Risiken und Belastungen der verschiedenen Maßnahmen.
Risiken und Belastungen unterscheiden sich?
Ja. Beim Risiko steht eher der mögliche Folgezustand im Fokus. Belastungen umfassen, wie sich etwa ein wochenlanger Verbleib auf der Intensivstation auswirkt. Muss man in der Reha neu Laufen lernen? Anders als junge Menschen haben ältere dazu oft viel Erfahrung gesammelt, sodass sie manches dann nicht mehr möchten.
Bei Corona kann eine wochenlange Isolation dazukommen.