Die Pharmakotherapie bei Kindern und Jugendlichen ist mit drei Problemen behaftet:
- Häufig fehlen Zulassungen für bestimmte Anwendungsgebiete und Altersgruppen.
- Es muss individuell dosiert werden
- Es mangelt oft an kindgerechten Darreichungsformen.
Off-label-Anwendungen von Medikamenten sind deshalb eher die Regel als die Ausnahme. Andererseits: “Off-label heißt nicht Off-knowledge”, sagt Prof. Dr. Wolfgang Rascher, ehemaliger Direktor der Universitätskinderklinik Erlangen und Vorstandsmitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ).
Mit einigen Medikamenten gebe es sehr wohl ausreichende Erfahrungen, so Rascher bei den Medizinischen Fortbildungstagen der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft m vergangenen Jahr. Nur: Woher diese Informationen bekommen?
Mit Kinderformularium.DE gibt es dafür jetzt eine unabhängige, für Nutzer kostenlose und frei zugängliche Online-Datenbank zur evidenzbasierten pädiatrischen Arzneimittelinformation (siehe Link-Tipp links). Kern der Datenbank sind bislang 512 Wirkstoffmonografien einschließlich Dosierungsempfehlungen für den On- und Off-label-Bereich.
Offizielles Referenzwerk für Jeden
Drei bis fünf Prozent aller Krankenhausaufnahmen von Kindern unter 15 Jahren sind durch unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) induziert. “Davon sind etwa ein Prozent vermeidbar”, erklärte Rascher, etwa wenn es um Medikations- und Dosierungsfehler oder das Interaktionspotenzial mehrerer Wirkstoffe gehe.
Im Jahre 2014 stellten die Erlanger Pädiater fest, dass es kein deutsches Standardwerk zur Dosierungsunterstützung bei Kindern und Jugendlichen gibt und fingen deshalb an, eine elektronische Datenbank aufzubauen. Bald wurde das Projekt vom Bundesgesundheitsministerium (BMG) gefördert, ab 2018 gab es Geld im Rahmen eines Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA).
Seit 2021 steht nun Kinderformularium.DE online. Das Projekt unter Leitung von Prof. Dr. Antje Neubert, Erlangen, und Prof. Rascher kann als das Referenzwerk für die pädiatrische Arzneimitteltherapie in Deutschland gelten.
Aus Primär- und Sekundärliteratur, Fachinformationen, Leitlinien und sonstigen Quellen sind Daten zur Dosierung von Arzneimitteln einer systematischen Risiko-Nutzen-Analyse unterzogen worden – das Ganze in Zusammenarbeit mit Arbeitsgruppen aus Norwegen, Österreich und den Niederlanden, wo vergleichbare Datenbanken existieren.
Aus der Analyse wird ein Dosierungsvorschlag erstellt, der im Expertengremium konsentiert, validiert und zur Veröffentlichung freigegeben wird. Die Datenbank wird regelmäßig aktualisiert. Rückmeldungen sowie UAW-Meldungen seitens der Nutzerinnen und Nutzer sind möglich und ausdrücklich erwünscht.
Die Nutzung funktioniert intuitiv
Nach einem Klick auf “Datenbank” öffnet sich das Suchfeld, in das der fragliche Wirkstoff, ein Handelsname oder ein Synonym eingegeben werden kann. Gleich darunter sind in alphabetische Reihenfolge die derzeit verfügbaren Wirkstoff-Monografien gelistet.
Beispiel Dimenhydrinat zur Prophylaxe und symptomatischen Therapie bei Übelkeit und Erbrechen: Übersichtlich werden die Zulassungen der oralen, retardierten, rektalen, in-travenösen und intramuskulären Darreichungsformen präsentiert und die Präparate im Handel aufgelistet.
Beim Klick auf “Dosierungsempfehlungen” fällt sofort “CAVE” ins Auge. “Kein Vorteil bei banaler Gastroenteritis von Säuglingen und Kleinkindern im Vergleich zur alleinigen Substitution mit Flüssigkeit und Elektrolyten”, heißt es da. Dafür gehäuft schwere Nebenwirkungen.
Dramatische Erfahrungen
Rascher schilderte den Fall eines sieben Monate alten Jungen, der nach Behandlung mit Diphenhydramin, dem Hauptbestandteil von Diphenhydrinat, gestorben war. Die Mutter hatte wegen Wirkungslosigkeit die doppelte Dosis verabreicht in der Annahme, ein freiverkäufliches Mittel sei wohl ungefährlich. Die Obduktion ergab ein Hirnödem sowie Zeichen eines Harnverhalts.
“Es gibt Medikamente oder Medizinprodukte, von denen wir meinen, sie wären harmlos”, sagte der Erlanger Pharmakologe und Pädiater. Sie können dennoch und gerade für kleine Kinder gefährlich werden.
So sorgte im Jahre 2007 ein Bericht der Zulassungsbehörde FDA über 123 Todesfälle in den USA bei Kindern unter sechs Jahren wegen der unkritischen Anwendung von Erkältungsmitteln für Aufsehen (Sharfstein JM et al. N Engl J Med 2007; 357:2321-2324).
Die UAW nach Einnahme von Erkältungsmitteln führten oft dazu, dass Notfallambulanzen aufgesucht werden mussten. Nach der Warnung und Einschränkungen des Verkaufs für Kinder unter zwei Jahren gingen in den USA die Vorstellungen von Kindern in Notfallambulanzen messbar zurück.
In Deutschland sind mehrere dramatische Fälle bekannt geworden, bei denen Kleinkindern mit Obstipation phosphathaltige Klysmen verabreicht worden sind. Hat das Klysma keine abführende Wirkung und verbleibt im Darm, wird das Phosphat resorbiert und bindet das körpereigene Kalzium mit der Folge einer schweren Hypokalziämie.
Rascher schilderte den Fall eines sechs Monate alten Mädchens, das daraufhin verstorben war. Der verordnende Arzt war wegen fahrlässiger Tötung angeklagt worden. In einem anderen Fall konnte ein sechsmonatiger Junge nur durch rechtzeitige Dialyse gerettet werden.
Übersichtliche Kerninformationen
Anwendern von Kinderformularium.DE sollte so etwas nicht mehr passieren. Dort finden sich Hinweise auf problematische Hilfsstoffe ebenso wie Referenzperzentilen, Daten zur Anwendung bei Adipositas, Auszüge aus Fachinformationen, Übersichten zu kindgerechten Handelspräparaten, zum Beispiel was Geschmack und Hilfsstoffe angeht.
Hinzu kommen spezifische Dosierungsinformationen bei Vorliegen von Nierenfunktionsstörungen, kinderspezifische und allgemeine UAW, Kontraindikationen und Warnhinweise, ein transparentes Referenz- und Änderungsverzeichnis sowie Hinweise auf ähnliche Wirkstoffe. Rascher: “Alles, was Sie in dieser Datenbank zum Off-label-Gebrauch von Medikamenten finden, ist evidenzbasiert!”
Quelle: Medizinische Fortbildungstage der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft in Erfurt (AkdÄ)