Das Paradebeispiel für die personalisierte Medizin ist die Onkologie – denn für die Wahl der Therapie ist inzwischen nur noch selten die Tumorentität ausschlaggebend, entscheidend sind vielmehr die molekularen Eigenschaften des jeweiligen Tumors. Findet man beispielsweise bestimmte Antigene auf der Oberfläche der Tumorzellen, kann man mit dem entsprechenden monoklonalen Antikörper gezielt dagegen vorgehen.
“Das hat zu einem Umdenken beziehungsweise zu einem Paradigmenwechsel in der Therapie geführt”, erklärte Priv.-Doz. Dr. Tim Jürgens, Rostock.
In der Schmerzmedizin gilt die Prophylaxe der Migräne als Vorreiter. Seit gut zwei Jahren steht ein Antikörper (Erenumab) gegen den Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP)-Rezeptor zur Verfügung. Zwei weitere, direkt gegen CGRP gerichtete Antikörper (Galcanezumab und Fremanezumab) sind in Europa mittlerweile ebenfalls zugelassen.
Die Zulassungen gelten für erwachsene Patienten mit mindestens vier Migränetagen pro Monat. Alle drei Präparate wirken vergleichbar gut und können die Anzahl der Migränetage bei Patienten mit episodischer oder chronischer Migräne um über die Hälfte verringern. Zudem zeigte sich in den bis dato vorliegenden Studien eine gute Verträglichkeit und somit ein deutlicher Vorteil gegenüber den herkömmlichen, zur Prophylaxe eingesetzten Medikamenten wie Topiramat, Betablocker oder Amitriptylin.
Früherer Einsatz erwünscht
Viele Migräne-Patienten sind bestens informiert und haben natürlich längst von den guten Ergebnissen der Antikörper-Therapie bei der Migräne-Prophylaxe gehört. Doch ihre Bitte, eines der Medikamente zu erhalten, muss häufig abgelehnt werden. “Aufgrund verschiedener Vorgaben, etwa der Verpflichtung zum zweckmäßigen und wirtschaftlichen Handeln, dürfen wir die Antikörper erst am Ende der therapeutischen Eskalationskaskade verordnen”, monierte Jürgens.
Gemäß dem G-BA ist der Einsatz wirtschaftlich, wenn andere Arzneimittel zur Migräneprophylaxe unwirksam blieben, kontraindiziert sind oder nicht vertragen wurden.
“Aus Sicht der Kostenträger ist das attraktiv, für die Patienten jedoch eher von Nachteil”, verdeutlichte der Neurologe. Denn bei herkömmlichen Prophylaktika vergehen oft mehrere Monate, bevor sich ein Ansprechen feststellen lässt. Das kann bedeuten, dass die Patienten über längere Zeit verschiedene Substanzen erproben müssen, bis feststeht, ob sie für einen Antikörper in Frage kommen.
Da sich das Ansprechen unter einem Antikörper in der Regel deutlich schneller zeigt, ließen sich durch einen früheren Einsatz möglicherweise viele Chronifizierungen der Migräne verhindern.
Wünschenswert wäre laut Jürgens daher ein Paradigmenwechsel, hin zu einer personalisierten Versorgung, in der alle Betroffenen möglichst rasch eine adäquate Prophylaxe erhalten – sei es nun ein Antikörper oder ein konventionelles Prophylaktikum.
Hier gibt es allerdings noch ein ungelöstes Problem: Bislang ist nicht vorhersagbar, welcher Patient auf welches Prophylaktikum anspricht. Es fehlen paraklinische und klinische Prädiktoren, welche die Ärztinnen und Ärzte davon befreien könnten, die Verschreibung der Antikörper vor allem aufgrund sozialrechtlicher und vergütungsrelevanter Aspekte vorzunehmen. “Leider sind wir in diesem Bereich von einer personalisierten Medizin noch relativ weit entfernt”, bedauerte Jürgens.
Erste Ansätze zur Prädiktion
Erste vielversprechende Signale betreffen Erenumab. In einer Untersuchung korrelierte ein sehr gutes Ansprechen auf den Antikörper mit einem positiven Provokationstest, bei dem eine Migräneattacke durch die Gabe von CGRP induziert wurde.
Etwas umfangreicher ist die Datenlage bei den herkömmlichen Prophylaktika, wobei auch hier größere prospektive Studien fehlen. So scheinen von einer Prophylaxe mit Onabotulinumtoxin A insbesondere solche Patienten zu profitieren, die noch nicht lange unter einer chronischen Migräne leiden. Zudem zeigen Untersuchungen, dass hohe Serumspiegel von CGRP und Pentraxin 3 mit einem guten Ansprechen einhergehen.
Neben einer veränderten Reaktion der zentralen Schmerzverarbeitung wurde auch klinisch ein besseres Ansprechen bei “implodierenden” Schmerzen und okulärer Lokalisation beobachtet. Depressivität und Übergebrauch von Schmerzmitteln stellen negative Prädiktoren für ein Ansprechen dar. Für Topiramat ist bekannt, dass es bei Patienten mit chronischem, lange anhaltenden Verlauf weniger gut wirkt.
Quelle: Online-Pressekonferenz im Rahmen des digitalen Deutschen Schmerzkongresses 2020 der Deutschen Schmerzgesellschaft e.V. und der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft e.V. am 21.10.2020
Weitere Antikörper bei Schmerzerkrankungen
In anderen Bereichen der Schmerzmedizin finden sich weitere, vielversprechende Therapieansätze mit Antikörpern. So wurde im Oktober 2020 Crizanlizumab als erste zielgerichtete Therapie zur Prävention schmerzhafter rezidivierender vaso-okklusiver Krisen bei Sichelzellkrankheit (SCD) von der Europäischen Kommission zugelassen.
Der monoklonale Antikörper ist gegen das Zellad-häsionsprotein P-Selectin gerichtet, das eine zentrale Rolle in der Pathophysiologie der SCD spielt. In der zulassungsrelevanten Studie verringerte Crizanlizumab die mediane jährliche Rate vaso-okklusiver Krisen um 45,3 Prozent verglichen mit Placebo. Für Patienten, die unter dieser seltenen Erkrankung leiden, ist das ein deutlicher Fortschritt, denn schon eine einzige dieser Krisen kann lebensbedrohlich sein.
Für die Indikation ‚Schmerzen bei Arthrose‘ werden derzeit die gegen den Nervenwachstumsfaktor (NGF) gerichteten monoklonalen Antikörper Tanezumab und Fasinumab in klinischen Studien untersucht. Gegenstand aktueller klinischer Forschung ist zudem der anti-NGF-Antikörper Fulranumab bei Patienten mit Osteoarthritis. Weitere Antikörper gegen Zielstrukturen, die bei der Pathophysiologie des Schmerzes eine Rolle spielen, befinden sich in der Entwicklung, beispielsweise ein Antikörper gegen P2X2.