Wiesbaden. Vor zwei Jahren hat die amerikanische Leitlinie den Grenzwert, der eine Hypertonie definiert, von 140/90 mmHg auf 130/80 mmHg gesenkt – und damit Millionen von Amerikanern über Nacht zu Hochdruckkranken gemacht. Ein systolischer Blutdruck zwischen 130 und 139 mmHg sowie ein diastolischer zwischen 80 und 89 mmHg, der vorher noch normal war, wurde damit zur Hypertonie Stadium 1. Ausschlaggebend dafür waren die Ergebnisse der SPRINT-Studie, die zwei Spezialisten am Samstag (4.5.) auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) kontrovers diskutiert haben.
Vorausgegangen war der neuen strengeren Ausrichtung diesseits und jenseits des Atlantiks eine Phase, in der Zielblutdruckwerte bei Risikopatienten eher angehoben worden waren. Dies geschah einerseits, weil es an Evidenz für strengere niedrige Zielwerte eigentlich mangelte. Andererseits war man der Meinung, dass Studien wie ACCORD und INVEST belegten, dass eine zu strenge Einstellung (< 120/80 mmHg) sogar das Mortalitätsrisiko steigert, wurde beim DGIM deutlich.
SPRINT-Studie als game-changer?
Doch dann kam SPRINT: Die Studie schließt mehr als 9.000 Patienten mit einem systolischen Blutdruck ≥ 130 mmHg und erhöhtem kardiovaskulären Risiko ein. Sie erhielten eine antihypertensive Behandlung mit einem strengen Ziel (< 120 mmHg) oder einem Standardziel (< 140 mmHg). Selbst in der Standard-Gruppe nahm der systolische Blutdruck durchschnittlich auf 135 mmHg ab, in der intensiv behandelten Gruppe tatsächlich auf die angestrebten 120 mmHg. Allerdings waren dazu im Mittel nur 2,8 Medikamente erforderlich.
In der intensiv behandelten Gruppe traten überraschenderweise signifikant weniger kardiovaskuläre Ereignisse auf als in der Vergleichsgruppe. Aber für die stärkere Blutdrucksenkung war auch ein Preis zu zahlen: Mehr hypotensive Phasen mit Synkopen oder anderen Symptomen, mehr Elektrolytverschiebungen, mehr akutes Nierenversagen. Wollen wir das allen unseren Patienten tatsächlich zumuten? Sollen wir aus SPRINT wirklich einen allgemein gültigen tieferen Zielblutdruck ableiten? Das stellte Prof. Jan Galle vom Klinikum Lüdenscheid zur Disposition.
Wenn man betrachte, wie der Blutdruck in SPRINT gemessen wurde, müsse man tatsächlich Vorsicht walten lassen, mahnte Galle. Die Patienten hielten vor der Messung eine definierte Ruhephase von fünf Minuten ein, dann erfolgten mit einem automatisierten standardisierten Gerät drei konsekutive Messungen, deren Mittelwert errechnet wurde. Man weiß jedoch, dass der Blutdruck in der Ruhephase absinkt und mit jeder Messung weiter. Daher betrachtet Galle dieses Messverfahren als plausible Erklärung dafür, dass die SPRINT-Patienten mit relativ wenigen Medikamenten einen so niedrigen Blutdruck erreichten.
So werde jedoch in der Praxis nicht gemessen, betonte Galle. Und so wurde auch in der ACCORD-Studie nicht gemessen, in der Patienten im Mittel 3,5 Medikamente brauchten, um einen vergleichbar niedrigen Blutdruck zu erzielen.
Sorgfältiger messen statt mehr Tabletten
Die Europäischen Fachgesellschaften, etwa auch die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM), sehen bislang deshalb nachvollziehbar keinen Grund, wegen der SPRINT-Daten den Zielblutdruck zu senken und beließen ihn bei < 140/90 mmHg. Jedoch hat die ESC/ESH-Leitlinie ihre Empfehlungen, wie man den Blutdruck messen soll, ausführlicher gestaltet. Sie lehnt sich dabei an das Verfahren an, das in SPRINT angewendet wurde.
Zu den guten Seiten der amerikanischen Hypertonie-Leitlinie äußerte sich Prof. Lorenz Sellin vom Uniklinikum Düsseldorf. Von diesem Schritt der Zielwertsenkung geht laut Sellin nochmals die intensive Botschaft aus, dass die Reduktion des kardiovaskulären Risikos durch eine stringente antihypertensive Therapie einen hohen Stellenwert besitzt. Denn der erhöhte Blutdruck ist der Hauptrisikofaktor für Lebenszeitverkürzung und die antihypertensive Therapie kann kardiovaskuläre Endpunkte um 35-40 Prozent vermindern, so Sellin.
Leitlinien gar nicht so unterschiedlich?
In der ESC/ESH-Leitlinie wird der Blutdruck zwischen 130-139/80-89 mmHg zwar nur als „hochnormal“ etikettiert. Doch die Leitlinie empfehle neben nicht-medikamentösen Maßnahmen, bei Hochrisikopatienten dieser Gruppe eine medikamentöse Behandlung zu erwägen. Ähnlich die Amerikaner, so Sellin: Auch die US-leitlinie sehe für die neue „Hypertonie Grad 1“ nicht zwingend Medikamente vor. Der Unterschied zwischen beiden Leitlinien sei deshalb letztlich gar nicht sehr groß, aber die amerikanische Empfehlung vermittle durch das Label „Hypertonie Grad 1“ mehr Dringlichkeit und stärke das Risikobewusstsein, meint Sellin. Anders als die komplexere europäische Leitlinie sei sie eine gut praktikable „one fits all“ Strategie.
Quelle: „Die Debatte: ja, nein, vielleicht“, DGIM-Kongress Wiesbaden, 4.5.2019