“Alle Menschen sind einzigartige Mischungen männlicher und weiblicher Eigenschaften”, so der Pionier der Geschlechtervarianz, Dr. Hirschfeld.
Menschen, die sich nicht – oder nicht vollständig – mit ihrem Geburtsgeschlecht beziehungsweise dem ihnen zugewiesenen Geschlecht identifizieren, nutzen verschiedener Begriffe zur Selbstbeschreibung. Zum Beispiel Transgender, Transidentität, Transsexualität, Transgeschlechtlichkeit oder Trans* (mit oder ohne*).
Trans* wird häufig als Überbegriff verwendet und umfasst sowohl Menschen, die eindeutig als Frau oder Mann leben (etwa transsexuell, transident) als auch non-binäre oder abinäre Personen, die sich weder als männlich noch als weiblich identifizieren.
Gemeinsam ist den verschiedenen Begriffen, dass für die Menschen eine Diskrepanz zwischen dem empfundenen Geschlecht/Geschlechtszugehörigkeit und den körperlichen Geschlechtsmerkmalen besteht (=Geschlechtsinkongruenz).
Der Begriff ‚Geschlechtsdysphorie‘, der ein psychisches Leiden impliziert, wurde im ICD 11 gegen das neutrale ‚Geschlechtsinkongruenz‘ ausgetauscht und ‚trans*‘ nicht mehr als Störung der Geschlechtsidentität unter “Mentale und Verhaltensstörungen” klassifiziert, sondern im Kapitel ‚Conditions related to sexual health‘ verortet.
Kampf gegen Psychopathologisierung
“Ich habe ein individuelles Geschlecht und mein geschlechtliches Empfinden ist das, was meine Selbstdefinition angibt”, so zitierte Annette Güldenring aus Heide die Sicht vieler non-binärer Menschen auf ihr Geschlecht. “Das geschlechtliche Empfinden ist hoch-individuell und damit werden wir uns in Zukunft häufiger auseinandersetzen müssen”, betonte die Psychiaterin und Sexualmedizinerin.
Dass sich die Medizin mit diesen Menschen nicht immer leicht tut, liegt in der Historie. So beschrieb der Psychiater und Gerichtsmediziner Richard von Krafft-Ebing in seiner erstmals im Jahr 1886 publizierten “Psychopathia Sexualis” das “weibliche Sexualcentrum im männlichen Körper” als “Wahn der Geschlechtsverwandlung”. “Mit dieser Veröffentlichung war das Thema in der Psychopathologie festgeschrieben und wir arbeiten seit über 100 Jahren daran, es da wieder rauszubekommen”, erklärte Güldenring.
Ein Pionier auf dem Gebiet der Geschlechtervarianz war der homosexuelle Arzt und Sexualwissenschaftler Dr. Magnus Hirschfeld (1868-1935). Er prägte den Satz: “Alle Menschen sind einzigartige Mischungen männlicher und weiblicher Eigenschaften.” Einen praktischen Beitrag leistete Georges Burou (1910-1987), der mit der penilen Inversion in den 50er Jahren die erste gut funktionierende Operationstechnik zur genitalen Feminisierung entwickelte.
Als großen Erfolg im Kampf gegen die Psychopathologisierung bezeichnete Güldenring dass der Weltärztebund (World Medical Association, WMA) im Oktober 2015 in seinem Statement zu Transpersonen feststellte: “Geschlechtsinkongruenz an sich ist keine psychische Störung”.
Unauffälliger Alkohol- und Drogenkonsum
Bislang liegen nur wenige Studiendaten zur Sucht bei geschlechtsinkongruenten Menschen vor. Die vorliegenden Zahlen sind laut Güldenring mit Vorsicht zu betrachten, da sich in der Vergangenheit nur sehr wenige Betroffene an Studien beteiligten. Eine Ausnahme scheint hier die vom Europäischen Netzwerk zur Untersuchung von Geschlechtsinkongruenz (ENIGI) durchgeführte ENIGI-Studie, für die sich vier europäische Kliniken in Amsterdam, Gent, Hamburg und Oslo zusammenschlossen.
Insgesamt lagen bei etwa 60 Prozent der Teilnehmenden affektive Störungen vor, Substanzmissbrauch wurde bei etwa acht Prozent festgestellt. Die Klinik in Hamburg wertete ihre eigenen Daten hinsichtlich Alkohol- und Drogenmissbrauch bei Transpersonen, die sich dort vorgestellt hatten, auch separat aus.
Schädlicher Alkoholkonsum wurde bei 5,0 Prozent der Mann zu Frau (MzF-Gruppe) und bei 2,5 Prozent der Frau zu Mann (FzM-Gruppe) ermittelt; Alkoholabhängigkeit bei 0,05 Prozent in der MzF-Gruppe und 11,1 Prozent in der FzM-Gruppe.
Ein ähnliches Bild ergab sich bei Drogen: In keiner der beiden Gruppen fand sich schädlicher Drogenkonsum, drogenabhängig waren 1,3 Prozent in der MzF-Gruppe und 3,8 Prozent in der FzM-Gruppe. Insgesamt zeigten in der Gesamtstichprobe 5,8 Prozent der Teilnehmenden schädlichen oder abhängigen Alkohol- oder Drogenkonsum.
Transition-unterstützende Therapie
In der im Jahr 2019 überarbeiteten S3-Leitlinie “Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit: Diagnostik, Beratung, Behandlung“, stellt der Abbau von historisch gewachsenem Misstrauen zwischen Behandlungssuchenden und Behandelnden einen zentralen Punkt dar.
So heißt es etwa in der Leitlinie: “Die individuelle geschlechtliche Selbstbeschreibung der Behandlungssuchenden soll im Rahmen des Erstkontaktes offen besprochen und in Absprache mit den Behandlungssuchenden anerkannt werden.”
Zudem werden Empfehlungen zu geschlechtsangleichenden Behandlungen ohne zeitliche Kriterien gegeben – in den alten Leitlinien waren diese an 18 Monate Psychotherapie geknüpft. “Es geht mehr um Partizipation und Selbstbestimmung, also die Frage, wohin wollen die Menschen selbst”, erläuterte Güldenring.
“Insgesamt”, so betonen die Leitlinienautoren: “soll die Leitlinie dazu beitragen, Transmenschen zu helfen, ihr Geschlecht selbstbestimmt leben zu können.
“Sucht ist kein Ausschlusskriterium für eine Transitionsbehandlung, sie sollte jedoch in eine Gesamtbehandlung von trans* und Sucht eingebettet werden”, gab Güldenring zu bedenken. Ihrer Erfahrung nach kann der Transitionsprozess zu einer Milderung der Suchtproblematik führen.
Insgesamt bestehe das Therapieziel nicht darin, allen Betroffenen eine Hormonbehandlung oder eine Operation zu vermitteln – vielmehr soll sich ihre Lebensqualität verbessern. Wichtig sei es von ärztlicher Seite, die Menschen ernst zu nehmen und offen sowie wertschätzend über ihre Anliegen zu sprechen.
Quelle: 22. interdisziplinärer Kongress für Suchtmedizin in München. Symposium: Sucht und Sexualität: “Trans – Sucht – Hilfe. Transgendergesundheitsversorgung in Deutschland – ein Überblick”.