Laut Bundesgesundheitssurvey leiden 31 Prozent der Bevölkerung zwischen 18 und 65 Jahren an einer psychischen Störung, ohne Berücksichtigung der dementiellen Erkrankungen in den höheren Alterskohorten. Diese Zahl ist plausibel und umfasst nicht nur Psychoseerkrankungen, sondern auch Abhängigkeitserkrankungen, Depressionen, Angsterkrankungen, traumatische Störungen oder Persönlichkeitsstörungen. Im Vergleich dazu sind z. B. Fehlfunktionen der Augen häufiger.
Mitbetreuung durch den Hausarzt
Da psychische Erkrankungen regelhaft Langzeitstörungen sind, bedürfen in Deutschland etwa 20 Millionen Menschen therapeutischer Hilfe und Führung. Dies kann nicht allein durch Psychiater, Psychosomatiker oder Psychologische Psychotherapeuten geleistet werden, sondern nur unter Mitwirkung der Hausärzte. Diese sind dazu auch qualifiziert. Sie verfügen über eine Weiterbildung in psychosomatischer Grundversorgung, sehen viele derartige Patienten, kennen häufig die sozialen Rahmenbedingungen und haben vor allem eine langjährige Patientenbindung.
In einer Untersuchung zur Häufigkeit psychischer Störungen wurden in 40 Hausarztpraxen 1.451 Patienten zwischen 18 und 60 Jahren im Wartezimmer untersucht, u. a. mit der WHO-5-Selbstbeurteilungsskala für psychische Störungen, dem Index zur Messung von Einschränkungen der Teilhabe (IMET) und der Burville-Multimorbiditätsskala. Die Hausärzte schätzten, dass etwa 45,4 Prozent ihrer Patienten an psychischen Erkrankungen leiden. Von den befragten Patienten klagten 46,5 Prozent über psychische Beschwerden, von denen 84,7 Prozent länger als ein halbes Jahr (chronisch) und 74,7 Prozent durchgängig (persistierend) bestanden. 75,9 Prozent sagten, dass auch ihr Arzt meine, dass sie unter psychischen Problemen litten.
Berücksichtigt man zusätzlich Einschränkungen der Teilhabe im sozialen und beruflichen Leben, dann bedeutet dies, dass von allen Wartezimmerpatienten im arbeitsfähigen Alter 38,3 Prozent unter chronischen bzw. 26,9 Prozent unter persistierenden psychischen Erkrankungen mit einer Beeinträchtigung der Le bensführung leiden.
Hohe Krankheitslast
Es wurde untersucht, welche Krankheitslast („Burden of Disease“) durch psychische Störungen entsteht. Dies wird berechnet durch Multiplikation der Häufigkeit einer Erkrankung mit dem Grad der Lebenseinschränkungen. Nach der Burville Skala litten die Patienten im Durchschnitt unter akuten und/oder chronischen Erkrankungen in 3,5 Kör persystemen. Eine akute oder chronische psychische Störung korrelierte stärker mit dem Grad der Lebensbeeinträchtigung als Krankheiten anderer Organsysteme. Dementsprechend ist der Burden of Disease Grad für psychische Störungen mit 1,69 am höchsten, gefolgt von muskuloskelettalen Erkrankungen mit 1,62 (siehe Tabelle 1).
In einem nächsten Schritt wurden 307 der psychisch auffälligen Patienten intensiv von einem Psychosomatiker untersucht mit der Frage, was bislang therapeutisch gemacht wurde und aus Spezialistenperspektive gemacht werden sollte. Im Ergebnis zeigte sich, dass bereits gemacht wurde oder wird, was sinnvoll ist, sei es durch den Hausarzt selbst oder in Kooperation mit Spezialisten. Dies betrifft die Diagnostik, die Pharmakotherapie, die Psychotherapie und auch die sozialmedizinische Betreuung.
Die Daten aus der vorliegenden Untersuchung stehen in Übereinstimmung mit vielen anderen ähnlichen Untersuchungen. Menschen mit psychischen Störungen gehören zum Alltag der hausärztlichen Tätigkeit. Ein Hausarzt, der psychische Störungen nicht adäquat diagnostizieren und behandeln kann, wird seinen Patienten nicht gerecht. Die Hausärzte wissen das, da ihre Einschät zung der Rate psychisch belasteter Patienten in der eigenen Praxis den empirisch gefundenen Daten entspricht.
Der Hausarzt als Reha-Mediziner
Da es sich bei den psychischen Erkrankungen häufig um „chronische Erkrankungen mit Teilhabebeeinträchtigung“ handelt, sind Hausärzte nach den Vorgaben von Paragraf 2 und Paragraf 26 des Sozialgesetzbuchs IX zu einem wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit als „Rehabilitationsmediziner“ anzusehen. Die Patienten sind langzeitig zu behandeln und dies nicht nur mit Blick auf die aktuelle Symptomatik, sondern auch bezüglich der Lebensbewältigung.
So sind es die Hausärzte, die sozialmedizinisch das Recht haben, über Arbeitsfähigkeit oder unfähigkeit zu entscheiden, die bei Reha Anträgen mitwirken müssen, als Konsiliarärzte Psychotherapeuten begleiten und bei denen letztendlich die Patienten über die Jahre angebun den sind, d.h. sie sind auch Case Manager. Allerdings wird die Rolle der Hausärzte als Rehabilitationsmediziner bislang nur unzureichend wahrgenommen, wissenschaftlich bearbeitet oder in den Vergütungssystemen berücksichtigt.
Literatur beim Verfasser
Interessenkonflikte: keine