Mit der Pandemie haben viele Berufs- und Gesellschaftsgruppen ihr Selbstverständnis hinterfragen müssen. Plötzlich galt ein Teil der Bevölkerung als “systemrelevant” oder “priorisiert”, man unterschied in “Alte”, “Risikogruppen”, “Reiserückkehrer”, “Corona-Leugner” etc. Die Gesellschaft wurde eingeteilt nach Kriterien, um bestimmte Risiken einschätzbar zu machen, in der Hoffnung, so eine bestmögliche Umgangsweise mit der Ausnahmesituation zu finden.
Auch die Politik hat in Teilen ihr Bild von sich noch einmal überarbeitet. Manche Durchsetzungsstärke von heute haben wir zu Beginn der Pandemie vermisst. Gerade in diesen Tagen lässt manches aber eine Frage immer lauter werden: Wie weit darf Politik entscheiden? Insbesondere, wenn es um medizinische Fragen geht, bin ich da skeptisch.
Bestes Beispiel ist die Diskussion um die Impfung von Kindern und Jugendlichen (S. 7). Noch vor der Zulassung durch die EMA und in einer Zeit, in der sich STIKO und ärztliche Vertreter zögerlich, ja sogar restriktiv zeigten, forcierten politische Entscheider öffentlichkeitswirksam die Impfung dieser Altersgruppe.
Ist es die Aufgabe der Politik, zu entscheiden, wer wogegen geimpft wird und wer nicht? Nein, das bestimmt die Wissenschaft, die Medizin. Die Politik sollte sich stattdessen endlich darum bemühen, genügend Impfstoffe zu beschaffen und diese gerecht und zuverlässig zu verteilen. Die Experten für eine patientengerechte Umsetzung sind wir! Die Bewältigung der Pandemie darf nicht von Wahlkampfkalkül überlagert und dadurch gefährdet werden.
Die Lage hat sich – auch dank unseres Impfeinsatzes – etwas entspannt. Beste Zeit, um sich und die eigene Rolle in unserer Gesellschaft zu hinterfragen. Ich hoffe, auch unsere Regierenden nehmen sich diesen Moment. Denn viel Zeit bis zur Wahl bleibt nicht mehr.
Mit kollegialen Grüßen
Ulrich Weigeldt
Bundesvorsitzender Deutscher Hausärzteverband e. V.