Göttingen/Bremen/Köln. Im Kampf gegen die Corona-Pandemie haben Forschende die Bedeutung von Auffrischungsimpfungen betont. “Die Boosterimpfungen katapultieren den Impfschutz erneut deutlich nach oben”, erklärte Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen.
Der Schutz vor einem schweren Verlauf sei nach vorliegenden Daten sogar effektiver als der kurz nach der zweiten Impfung. “Und auch der Schutz vor Ansteckung und Weitergabe einer Infektion ist sehr ausgeprägt und deutlich besser als bei Geimpften ohne die Auffrischung.”
Vorbild Israel
Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen verwies auf Israel. Dort sei es im Sommer gelungen, die Welle bei einer ähnlichen Impfquote wie in Deutschland zu stoppen, indem rund 50 Prozent der Menschen eine Boosterimpfung bekommen haben.
“Der Effekt wäre in Deutschland möglicherweise nicht ganz so stark, da der erste Impfabstand länger war und die Impfungen nicht ganz so lange her sind wie in Israel”, erläuterte sie. “Aber wir erwarten auch hier eine deutliche Wirkung.”
Auffrischungsimpfungen alleine reichen nach Ansicht von Lothar Wieler, Präsident des Robert Koch-Instituts, allerdings nicht aus, um das Infektionsgeschehen in den Griff zu bekommen. Das Boostern erhöhe den Immunschutz stark und verringere die Viruslast, sollte sich ein Geimpfter später anstecken. Damit das Infektionsgeschehen kontrollierbar werde, müssten aber mindestens 90 Prozent der Menschen eine Immunität aufbauen – durch Impfung oder Infektion, sagte Wieler.
Das heiße nicht, dass das Virus dann verschwinde. “Dann wird das eine Krankheit sein wie viele andere, die nach wie vor noch auch zu Todesfällen führt, aber sie wird eben nicht mehr dazu führen, dass sie in irgendeiner Weise unser System überlastet.”
Brandbrief von 35 Fachleuten
Mit einem dramatischen Appell haben 35 führende Mediziner und Fachleute aus ganz Deutschland die Politik zum Umsteuern in der Corona-Krise aufgefordert. “Jeder Tag des Abwartens kostet Menschenleben”, mahnten die Experten in ihrem dreiseitigen Aufruf. “Das Infektionsgeschehen breitet sich unkontrolliert aus. Das Gesundheitssystem läuft Gefahr, zusammenzubrechen.” Die politischen Entscheidungsträger in Bund und Ländern müssten ihrer “Verantwortung für das Wohlergehen der Bevölkerung” nachkommen.
Der Text entstand unter Federführung von Prof. Michael Hallek, Direktor der Klinik für Innere Medizin an der Universitätsklinik Köln, und der Braunschweiger Virologin Prof. Melanie Brinkmann. Er wurde am Samstag (13.11.) vom “Kölner Stadt-Anzeiger” und dem “Redaktionsnetzwerk Deutschland” veröffentlicht.
Politik habe Warnungen ignoriert
Anlass für den ungewöhnlichen Aufruf der 35 Fachleute ist die massive Dynamik der vierten Corona-Welle in Deutschland. Die Gesamtzahl der bundesweit nachgewiesenen Corona-Infektionen überschritt am Sonntag die Fünf-Millionen-Marke, die Sieben-Tage-Inzidenz gab das Robert Koch-Institut mit 289,0 an, was erneut ein Höchstwert ist.
“Wir blicken in großer Sorge auf die kommenden Wochen und Monate. Die derzeitige pandemische Situation hat das Potential, die Situation aus dem Frühjahr und vergangene Wellen in den Schatten zu stellen”, schreiben die 35 Unterzeichner. “Das Personal in den Krankenhäusern ist müde und quittiert den Dienst.” Trotz vielfältiger Warnungen aus der Wissenschaft habe die Politik den Zeitpunkt für ein frühzeitiges Handeln verstreichen lassen. Sie empfänden eine “tiefe Enttäuschung” über den “wiederholt nachlässigen Umgang mit dem Wohlergehen der Menschen”.
“Notfalls impfen mit Zwang”
Weder beim Impfprogramm noch bei den Corona-Tests oder der Kontaktnachverfolgung agiere das Land so, wie man es angesichts “der technologischen und administrativen Möglichkeiten Deutschlands erwarten sollte”. Die Politik müsse in der Pandemie ehrlicher mit den Bürgern kommunizieren. Allein mit der Debatte, den Rechtsstatus der epidemischen Notlage zu beenden, habe die Politik “komplett die falschen Signale” gesendet, sagte Hallek im WDR. “Das hat natürlich dazu geführt, dass die Menschen weniger vorsichtig werden, wo doch Kontaktbeschränkungen in geringem Umfang noch sinnvoll sind.”
Außerdem müsse die Politik alles dafür tun, dass sich mehr Menschen impfen lassen. “Notfalls auch mit mildem Zwang”, forderte der Kölner Klinikdirektor. Die Forscher fordern in ihrem gemeinsamen Appell außerdem die Einrichtung eines nationalen Krisenstabs mit Fachleuten aus Virologie, Medizin und Öffentlicher Gesundheit, aber auch Praktikern mit Leitungserfahrung, etwa aus Kliniken oder Unternehmen. Politische Entscheidungen müssten viel stärker als bisher an wissenschaftlichen Erkenntnissen ausgerichtet werden.
Quelle: dpa