Berlin. Vor dem Hintergrund der stark steigenden Covid-19-Erkrankungszahlen in Deutschland zeichnet sich ein Richtungswechsel in der vom Robert Koch-Institut (RKI) vorgegebenen Strategie ab. So sollte die bisherige alleinige Eindämmungsstrategie (“Containment”) seit Donnerstag (12. März) explizit durch “gesamtgesellschaftliche Anstrengungen” flankiert werden, die einer zweiten Phase der “Protection” zuzuordnen sind. Dazu zählt das RKI beispielsweise “die Reduzierung von sozialen Kontakten mit dem Ziel der Vermeidung von Infektionen im privaten, beruflichen und öffentlichen Bereich sowie eine Reduzierung der Reisetätigkeit”.
Besonderes Augenmerk gilt dabei dem Schutz von Risikogruppen: vor allem Älteren und/oder chronisch Erkrankten (insbesondere mit Herzschwäche, Asthma, COPD oder Krebs). Sie sollten Menschenansammlungen, Konzerte oder die vertrauten Vereinstreffen tatsächlich meiden. Innerhalb von Familien können Betroffene abwägen, wie weit sie ihr gesellschaftliches Leben einschränken wollen für einen Schutz vor einer Infektion, und inwiefern jüngere, weniger gefährdete Familienmitglieder helfen können, beispielsweise durch das Übernehmen der Einkäufe oder das Abholen von Rezepten und Medikamenten.
Auch wer selbst nicht zur Risikogruppe gehört, sollte sich trotzdem an die empfohlenen Hygienemaßnahmen und einen Mindestabstand von 1,5-2 Metern zu anderen Personen halten. Das empfiehlt auch das RKI (s.u.). Denn alle Altersgruppen tragen in etwa ähnlich stark zur Verbreitung des Virus bei, zeigt ein Bericht italienischer Forscher (auf Italienisch).
Auswertungen der bisher vorliegenden Daten aus China und Italien zeichnen unterdessen ein erstes Bild, wer besonders gefährdet ist und wann eine intensive medizinische Überwachung nötig wird. So sterben vor allem Männer und Menschen über 70 Jahre am neuartigen Coronavirus; hohe D-Dimer- und niedrige Lymphozytenwerte deuten bereits bei der Klinikaufnahme auf eine ungünstige Prognose hin (Zhou et al., DOI: 10.1016/S0140-6736(20)30566-3, n = 191).
Wichtig: Der Großteil der Studien basiert auf einer außergewöhnlich kleinen Fallzahl (jeweils in Klammern angegeben) und kann daher nur als erster Hinweis gewertet werden.
Risikofaktor 1: Alter
Laut RKI sind Menschen über 60, besonders aber Menschen über 80 Jahre, deutlich mehr gefährdet als jüngere. Das unterstreicht nun auch eine Auswertung der bis zum 9. März registrierten 463 Todesfälle in Italien, über die die Zeitung „La Republica“ berichtete. Demnach waren nur 1 Prozent der Verstorbenen im Alter von 50–59 Jahren. 10 Prozent waren zwischen 60 und 69 Jahre alt, 31 Prozent zwischen 70 und 79 und fast die Hälfte (44 Prozent) waren im Alter von 80 bis 89 Jahren. Die übrigen 14 Prozent hatten bereits das 90. Lebensjahr erreicht oder überschritten.
Auch Daten zur Sterblichkeit in China zeigen dies:
Risikofaktor 2: Begleiterkrankungen
Begleiterkrankungen wie Hypertonie, Diabetes und KHK traten bei den Verstorbenen in China etwa doppelt so häufig auf wie unter den Überlebenden. Allerdings hatte ein Drittel der Gestorbenen keine bekannten Begleiterkrankungen, solche konnten die Ärzte auch bei 60 Prozent der Überlebenden nicht feststellen (Zhou et al., DOI: 10.1016/S0140-6736(20)30566-3, n = 191). IHF-Vorsitzender Dr. Hans-Michael Mühlenfeld rät Hausärzten, besonders Patienten mit Herzschwäche, Asthma und COPD im Blick zu behalten.
Fazit: Wer körperlich gesund ist, hat zwar deutlich bessere Überlebenschancen, ist aber nicht vor einer kritischen COVID-Erkrankung gefeit.
Derzeit gebe es kaum Informationen aus Fallberichten, wie Krebspatienten auf einen Kontakt mit dem Virus reagieren, schreibt das Deutsche Krebsforschungszentrum auf seiner Webseite. Aber: “Es ist davon auszugehen, dass Menschen, deren Immunsystem geschwächt ist (Immunsuppression), schneller und möglicherweise auch schwerer erkranken als Gesunde.”
Immunsupprimierte Patienten sollten daher ein völliges Kontaktverbot zumindest in Erwägung ziehen, raten Hausärzte gegenüber “Der Hausarzt”.
Risikofaktor 3: Rauchen
Eine Gruppe chinesischer Forscher hat 78 stationär in Wuhan behandelte Patienten 14 Tage nach ihrer Einweisung untersucht. Unter den elf Patienten (14 Prozent), deren Zustand sich verschlechtert hatte, war der Anteil der Raucher signifikant höher als bei jenen, deren Zustand sich verbessert hatte (67 Patienten, 86 Prozent): 27,3 versus 3 Prozent. Auch war der Altersdurchschnitt bei den schwereren Verläufen höher (Liu et al., DOI 10.1097/CM9.0000000000000775, n = 78).
Hinzu kommt, dass Männer oft ungesünder leben als Frauen. In China etwa rauchen Angaben des Staatsministeriums für Gesundheit zufolge rund 52 Prozent aller Männer, aber nicht mal drei Prozent aller Frauen. Eine durch das Rauchen geschwächte Lunge ist anfälliger für Atemwegsinfektionen.
Risikofaktor 4: Geschlecht
COVID-19 setzt vor allem Männern zu – diese stellten in Wuhan 70 Prozent der Gestorbenen und 59 Prozent der Überlebenden (Zhou et al., DOI: 10.1016/S0140-6736(20)30566-3, n = 191).
Nach WHO-Angaben lag die Todesrate in China Mitte Februar für Männer bei 2,8 Prozent, für Frauen bei 1,7 Prozent. Eine ähnliche Verteilung habe es bereits 2003 beim SARS-Ausbruch in Hongkong gegeben.
Risikofaktor 5: Lange Erkrankungsdauer
Wenn die Symptome spätestens zwei Wochen nach Beginn der Erkrankung nicht deutlich zurückgehen, ist wohl ein ungünstiger Ausgang zu befürchten. So dauerte die Erkrankung bei den chinesischen Überlebenden im Mittel 22 Tage vom Symptombeginn bis zur Klinikentlassung nach einem negativen Virustest. Viren wurden im Median 20 Tage lang ausgeschieden, die Bandbreite reichte von 8–37 Tagen. Bei den Gestorbenen trat der Tod im Mittel nach knapp 19 Tagen ein (Zhou et al., DOI: 10.1016/S0140-6736(20)30566-3, n = 191). Dies lasse darauf schließen, dass die Sterbezahlen erst zwei bis drei Wochen nach Beginn eines Ausbruchs merklich steigen. Alle COVID-19-Toten waren bis zum Schluss viruspositiv.
Ein Rückgang des Fiebers nach etwa zehn Tagen ist das erste positive Zeichen. Bei Patienten mit tödlichem Ausgang bleibt das Fieber durchgehend oder geht nach rund zehn Tagen etwas zurück, um dann wieder anzusteigen. Einige Tage nach dem Fieber lassen auch Husten und Atemnot nach. Persistieren solche Beschwerden nach zwei Wochen noch, ist dies ebenfalls ein schlechtes Zeichen.
Der leitende Virologe des Konsiliarlabors für Coronaviren an der Berliner Charite Prof. Christian Drosten weist ergänzend darauf hin, dass zum Beispiel eine hohe Zahl an Viren mit dem Stuhl ausgeschieden wird. Dieses sei aber nicht mehr infektiös. Ähnlich bei wieder genesenen Patienten: Hier weise das Lungensekret sieben Tage nach der Genesung noch Viren auf, aber es sei nicht mehr ansteckend. Das folgern Drosten und sein Team aus der Untersuchung der ersten “Münchner Fälle”.
Jüngere zu Solidarität aufgerufen
Das RKI hat dabei explizit auch jüngere Menschen zu Selbstschutz und Solidarität aufgerufen. Zwar seien tatsächlich Ältere und Menschen mit Grunderkrankungen besonders gefährdet. „Aber auch wenn es selten vorkommt: Auch bei jüngeren und gesunden Menschen kann es schwere Verläufe geben, darunter sogar Todesfälle“, betonte am Donnerstag (12. März) RKI-Vizepräsident Lars Schaade. Alle müssten deshalb die Situation ernst nehmen und sich selbst und andere schützen.
Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, warb angesichts von Einschränkungen im Alltag wegen des Coronavirus für Nachbarschaftshilfe. “Es gilt, den alten und pflegebedürftigen Menschen von nebenan in den Blick zu nehmen”, sagte er. Auch dafür finden sich in der aktuellen Patienteninfo allerhand Anregungen.