Noch 2013 hätte ihn kaum jemand für möglich gehalten: Den Erfolg der SGLT2-Inhibitoren. Damals sah der G-BA keinerlei Zusatznutzen von Dapagliflozin bei der Behandlung von Typ-2-Diabetes.
Der Hersteller blieb zwar überzeugt vom Mehrwert dieses Antidiabtikums: Schließlich führe es nicht zu Unterzuckerungen und könne sich auf Surrogate wie Gewicht und Blutdruck auswirken [1]. Der GKV-Spitzenverband startete jedoch das Schiedsstellenverfahren und Dapagliflozin wurde aus dem Vertrieb genommen [2].
In den USA verlangte die FDA unterdessen eine Studie nach Zulassung der Substanz. Ziel war kein Nutzennachweis, sondern der Beweis der kardiovaskulären Sicherheit. Solche Studien in der Diabetologie sind Folge des Rosiglitazon-Skandals [3], der zeigte, dass im Zulassungsverfahren neuer Antidiabetika ein “Primum-Nil-Nocere”- Akt nötig ist [4].
Erstaunliche Ergebnisse
Die Sicherheitsstudie, die 2015 die Nase vorne hatte, war EMPA-REG-OUTCOME [5], eine an vielen Standorten durchgeführte Interventionsstudie mit über 7.000 Teilnehmenden. Um eine entsprechende Power (Trennschärfe) für den seltenen Endpunkt “Tod” untersuchen zu können, mussten die Probanden nicht nur an Typ-2-Diabetes, sondern auch an relevanten Herz-Kreislauf-Erkrankungen leiden (2-Gefäß-KHK, Myokardinfarkt, Schlaganfall oder relevante pAVK; viele litten an einer schweren Herzinsuffizienz/HFrEF).
Sie erhielten zusätzlich zur etablierten antidiabetischen Therapie randomisiert entweder 10 oder 25 mg Empagliflozin oder Placebo. Der Ausgangs-HbA1c lag bereits im Zielbereich und betrug in Mittel 8 % bzw. 64 mmol/mol (Einschlusskriterium > 7 % bzw. 53 mmol/mol), die meisten Patienten waren mit Metformin vorbehandelt.
Der zusammengesetzte Endpunkt bestand aus “Tod durch kardiovaskuläre Erkrankungen”, “nicht-tödlicher Myokardinfarkt” und “nicht-tödlicher Schlaganfall”. Solche Studien eignen sich nicht, um die Effektivität der HbA1c-Senkung zu beurteilen; auch sind die Diagnosekriterien für den “nicht-tödlichen Herzinfarkt” nicht immer gleich.
Der Umstand, dass diese während des Studienverlaufs geändert wurden und in den Studienzentren unterschiedlich waren, rief Skeptiker auf den Plan. Trotzdem war das Ergebnis erstaunlich: Hier zeigte eine “On-Top”-Substanz zusätzlich zur etablierten Standardtherapie einen Effekt, den die Diabetologie so noch nicht kannte: Bereits 10 mg Empagliflozin konnten die Gesamtmortalität mit einer NNT von 34 senken. Die beobachteten Nebenwirkungen waren vertretbar und beschränkten sich in der Studie im Wesentlichen auf Genitalmykosen. [5]
Studien mit Canagliflozin und Dapagliflozin folgten; die Auswertungen betrachteten vor allem die Effekte bei Herzinsuffizienz. Dass eine der größten Studien mit 10 mg Dapagliflozin das primäre Studienziel, relevante Herzinfarkte zu verhindern, bei nicht selektierten Betroffenen verfehlte, interessierte 2018 kaum noch jemanden. Heute dient die Studie immerhin noch zur Abschätzung, welcher Effekt bezogen auf das HbA1c zu erwarten ist: Dieses lässt sich im Mittel von 8,4 % auf 8 % senken [6].
HbA1c verliert an Bedeutung
Der Erfolg von Empagliflozin und die Nebeneffekte aus anderen Studien hatten gleich mehrere Auswirkungen: Zum einen trat die Wertigkeit der HbA1c-Senkung in den Hintergrund. Zweitens kristallisierte sich heraus, dass eine hochgradig eingeschränkte Herzfunktion der eigentliche Wirkansatz sein müsse.
Zeitgleich fiel auf, dass die Nierenfunktion durch SGLT2-Hemmer nachhaltig beeinflussbar zu sein scheint. Und zwar nicht – wie anfangs angenommen – die Patienten gefährdend: Fällt zu Beginn einer Gliflozin-Therapie die anfängliche GFR ab, bleibt die sonst üblicherweise zu beobachtende schleichende Nierenfunktionsverschlechterung aus [7].
In 2018 und 2019 bestätigten zwei größere Studien mit Dapagliflozin und Empagliflozin das Vermutete [8,9]. In den Nationalen Versorgungsleitlinien (NVL) [10,11] etablierten sich diese Substanzen daraufhin als Mittel der Wahl bei Herzinsuffizienz. Und auch prospektive Untersuchungen bezüglich Nierenfunktionsstörungen konnten spätestens 2021 gezielt bestätigt werden [9,12].
Nun stellt sich die Frage, inwieweit diese den Substanzen zugeschriebene “erhaltene Nierenfunktion” bedeutsam ist. Schließlich haben relevante Nierenerkrankungen in Deutschland schon in der Vor-Gliflozin-Ära abgenommen [13].
Wo stehen wir heute?
Eine der wichtigsten Übersichtsarbeiten [14] hat die Debatte ausgelöst, ob Gliflozine letztlich nicht für alle relevant seien. Eine glückliche Fügung für die zuletzt vor allem HbA1c-zentrierte Diskussion in der Diabetologie, auch wenn viele Autoren die Daten noch nicht als gesichert erachten [14, 15, 16].
Dank dieser Arbeit lässt sich außerdem erstmals darstellen, wer überhaupt von medikamentösen Therapien profitieren kann. Denn längst ist klar: Nicht alle müssen fürchten, dass eine mehr oder minder erhöhte Blutglukose schadet. Spätestens ab dem 75. Lebensjahr gehen erhöhte Glukosewerte (bis 8,7 %) nicht mit einer erhöhten Mortalität einher. Und bei Nierengesunden sind schon ab 65 moderat erhöhte HbA1c-Werte als irrelevant für die Prognose anzusehen [17, 18].
Meinungsführer der deutschen Diabetologie gratulieren nun plötzlich älteren Menschen mit Typ-2-Diabetes, dass ihnen das Schicksal im Gegensatz zu Nicht-Diabetikern wohlgesonnen sei [19]. Und das geschieht in einem gesellschaftlich aufgeheizten Umfeld, das jedwede Diabetes-Diagnose als “Tsunami” und “Volkskrankheit” geißelt [20]. Hingegen hat die Ärzteschaft kaum wahrgenommen, dass es zu einem erheblichen Rückgang der Folgeerkrankungen Amputation, Dialyse und Erblindung gekommen ist [21, 22].
Zuletzt hat die deutsche Diabetologie eindringlich darauf hingewiesen, dass einer Überdiagnose und -therapie auch dadurch entgegenzuwirken sei, dass Werte im Grenzbereich nicht zur Diagnose genutzt werden. Die neuen Praxisempfehlungen der Deutschen Diabetes-Gesellschaft (DDG) erläutern das Prinzip der “minimal difference” bei Laborwerten und den Fakt, dass der HbA1c-Wert im Alter bei Gesunden ansteigt [23]. Gerade bei Menschen, die oft fälschlicherweise zu “Diabetikern” erklärt werden, ist eine Reduktion von medikamentösen Therapien erstrebenswert.
Die Sicht der Hausärzte
Für die niedergelassenen Ärzte und Diabetesteams macht der Sinneswandel die Therapieentscheidungen nicht leichter [24]. Gefordert wie nie zuvor ist eine partizipative Entscheidungsfindung [11]. Die Priorisierung muss bei den Hausärzten liegen, die gemeinsam mit den Betroffenen eruieren, wie hoch das individuelle Risiko ist.
In einem weiteren Schritt ist zu klären, welchen Therapieansatz man verfolgt: So ist es weiterhin nötig, gefährlich hohe Glukosewerte zu erfassen und medikamentös wie nicht-medikamentös in den Griff zu bekommen. Die NVL Diabetes mellitus Typ 2 empfiehlt hier einen oberen Cut-Off von 8,5 % bzw. 69 mmol/mol. Hinzu kommt die Erkenntnis, dass die Hypoglykämie-Gefahr als umso gravierender einzuschätzen ist, wenn eine Zuckersenkung per se nichts nutzt.
Dies zu verstehen, ist ein schwieriges Unterfangen: Steht es doch den Jahrzehnte prägenden Empfehlungen, “normnahe Zielwerte” zu erreichen, faktisch konträr entgegen. Zudem müssen wir in dieser Diskussion an schwer Herz- und Nierenkranke denken, denen die neuen Medikamente als Add-on-Therapie unabhängig vom erwünschten Effekt zur HbA1c-Senkung verordnet werden sollen.
Auch GLP-1-Analoga spielen entscheidende Rolle
Neben den Gliflozinen spielen hier auch die GLP-1-Analoga eine entscheidende Rolle: Medikamente, die noch gespritzt werden müssen und oft schon wegen dieses Umstands von Betroffenen abgelehnt werden. Patienten ist es darüber hinaus oft schwer zu vermitteln, dass man ihnen Substanzen gibt, die den Blutzucker vielleicht weniger beeinflussen als ihre Prognose.
Sich mit der Prognose auseinanderzusetzen, ist dann auch Aufgabe des Behandlungsteams, welches sich mit ganz neuen Fragen konfrontiert sieht: Ist es wirklich gerechtfertigt, Insulin einzusetzen, wenn Substanzen verfügbar sind, die das Risiko minimieren?
Und auch abseits des Patientengesprächs kommen Fragen auf: Wie verhält es sich mit dem Wirtschaftlichkeitsgebot? Gemessen an Statinen und Osteoporose-Medikamenten, bei denen es definierte Verordnungskriterien gibt, dürften die Substanzen bei drei Risikofaktoren keinesfalls zum Einsatz kommen (siebe unten stehende Tabelle).