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PrädiabetesDiagnose Typ-2-Diabetes: Je früher desto besser?

Typ-2-Diabetes müsse pathophysiologisch als Kontinuum aufgefasst werden – von Adipositas, Prädiabetes bis hin zum manifesten Diabetes. Das sagen Befürworter einer möglichst frühen Diagnose. Mit dieser ließen sich manifeste Diabetes- und Folgeerkrankungen verhindern. Dafür gebe es keine ausreichenden Belege, sagen hingegen Gegner dieser These. Ein Pro und Kontra.

Ob es sich bei Prädiabetes um eine Erkrankung handelt oder nicht, wird kontrovers diskutiert.

Pro

Das Verständnis des Typ-2-Diabetes (T2D) hat sich in den vergangenen Jahren gewandelt, konstatierte Privatdozentin Johanna Brix vom Diabeteszentrum Wienerberg in Wien beim „Internationalen Fortbildungskurs in praktisch-klinischer Diabetologie“ in Jena.

Adipositas, Prädiabetes und manifester T2D müssten als Kontinuum aufgefasst werden: während der Nüchternblutzucker über Jahre vorerst stabil bleibt, nimmt die Insulinresistenz von Muskel-, Leber- und Fettzellen sukzessive zu. Übermäßige Kalorienzufuhr führt zu Fettablagerungen in der Leber und Pankreas mit gesteigerter Glukoneogenese und erhöhter Lipotoxizität, die Betazellfunktion nimmt allmählich ab.

Bereits die prädiabetische Stoffwechsellage sei mit kardiovaskulären und chronischen Nierenerkrankungen sowie mit vermehrtem Auftreten von Herzinsuffizienz assoziiert, sagte Brix. Die Entwicklung vom prädiabetischen Zustand hin zum manifesten T2D erhöhe das Herzinsuffizienzrisiko um 50 Prozent, die Rückkehr zur Normoglykämie reduziere das Herzinsuffizienzrisiko um 39 Prozent, so die Endokrinologin [1].

Bei frühzeitig guter Glukosestoffwechseleinstellung könne mit weniger Spätfolgen eines Diabetes gerechnet werden, so Brix mit Verweis auf Studien wie DCCT (Diabetes Control and Complication Trial) sowie EDIC (Epidemiology of Diabetes Interventions and Complications Trial).

„Eine frühe intensive glykämische Kontrolle ist mit einem verringerten Risiko von mikrovaskulären Komplikationen und Myokardinfarkt verbunden.“ Ein um absolut ein Prozent höherer HbA1c zu Beginn des T2D war in der UKPDS-Studie nach 20 Jahren mit einem 36 Prozent höherem Mortalitätsrisiko assoziiert – Diabetologen sprechen vom „Legacy-Effekt“ (legacy, engl.: Vermächtnis, Erbe, Nachlass) [2].

Eine Metaanalyse aus 129 Studien, die 10 Millionen Teilnehmer umfassten, hat die Assoziation zwischen Prädiabetes und erhöhter Gesamtmortalität sowie kardiovaskulärer Erkrankungen bestätigt [3]. Die Autoren der britischen Whitehall-II-Studie erklären die verschlechterte Prognose von Personen mit Prädiabetes mit einer Häufung kardiometabolischer Risikofaktoren, die mit Hyperglykämie einhergehen [4].

Als weiteres Argument führte Brix Langzeitstudien nach bariatrischer Chirurgie an, die über 20 Jahre eine Reduktion mikrovaskulärer Komplikationen in allen Subgruppen anzeigen – am meisten profitierten jene Patienten, die zu Beginn eine prädiabetische Stoffwechsellage hatten [5].

In der deutschen Prädiabetes-Lebensstil-Interventionsstudie (PLIS) führte eine mehr als fünfprozentige Gewichtsabnahme – das schafften ein Viertel der Teilnehmenden – zu einer Reduktion des Diabetesrisikos um bis zu 58 Prozent. 43 Prozent derjenigen, die mehr als fünf Prozent abgenommen hatten, erreichten eine normale Glukosetoleranz.

Bei Medikamenten, die theoretisch zur Diabetesprävention geeignet wären, gebe es positive Studienerfahrungen mit Metformin, Pioglitazon sowie GLP-1-Rezeptoragonisten wie Liraglutid und Semaglutid, erklärte Brix.

Kontra

Dagegen erklärte der Internist und Hausarzt Dr. Kai Mehrländer aus Barmstedt, dass es keinen nachgewiesenen Nutzen eines populationsbezogenen Screenings auf Diabetes gebe. Ein prospektives Diabetes-Screening in der ADDITION-Studie bei 40- bis 69-jährigen Menschen mit moderatem und hohem Risiko hatte bei leitliniengerechter Therapie über knapp zehn Jahre keinen Einfluss auf die kardiovaskuläre oder Diabetes-assoziierte Mortalität [6].

Kritisch bewertet der Koautor der Nationalen Versorgungsleitlinie (NVL) Typ-2-Diabetes zudem die derzeitigen Glukose-Grenzwerte. So war 2003 vor allem wegen der präanalytischen Glykolyse nach der Blutentnahme der Grenzwert der Nüchternplasmaglukose auf zuletzt ≥100 mg/dl (5,6 mmol/l) gesenkt worden.

Die WHO, ebenso wie auch die DEGAM und AKdÄ, favorisiert hingegen einen Grenzwert von 110 mg/dl. Der Nüchternblutzucker schwanke intraindividuell von Tag zu Tag stark. Zudem ist die Bestimmung der Nüchternplasmaglukose nur nach sofortiger Zentrifugation des Serums oder in Röhrchen mit glykolysehemenden Zusätzen gestattet [7]. Damit sei die damalige Begründung für die Absenkung des Nüchterngrenzwerts obsolet, meint Mehrländer.

Und der orale Glukosetoleranztest (oGTT) sei nur dann mit einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse und retinale Mikroangiopathie assoziiert, wenn eine Glukosetoleranzstörung tatsächlich in einen T2D münde. Daher liefere der oGTT – außer beim Gestationsdiabetes – keinen therapierelevanten Zusatznutzen. Dafür sei er aufwendig, teuer und schlecht reproduzierbar (Schwankung ±15 Prozent).

Auch den „Graubereich“ zwischen 100 bzw. 110 und 125 mg/dl kritisiert Mehrländer. Denn nicht jeder im Graubereich erhöhte Blutzucker mündet in einen manifesten Diabetes: die jährlichen Progressionsraten liegen bei fünf bis 10 Prozent, ein ähnlicher Prozentsatz erreicht die Remission zur Normoglykämie [8]. Es sei absurd, ein Medikament gegen eine Erkrankung zu geben, die noch gar nicht bestehe, meint Mehrländer.

Reviews und Metaanalysen bei erhöhtem Nüchternblutzucker haben keine wesentlichen Effekte von Diät oder Bewegung allein auf das Diabetesrisiko oder auf das Risiko Diabetes-assoziierter Erkrankungen ergeben, allenfalls die Kombination von intensiver Diät und Bewegung kann die Häufigkeit von Diabeteserkrankungen leicht vermindern [9, 10].

Ebenso sieht Mehrländer keine relevanten Effekte für Medikamente wie Metformin, DPP-4-Hemmer oder Insulinsekretagoga auf das Risiko Diabetes-assoziierter Erkrankungen.

Der Internist warnte vor Schäden durch Überdiagnosen und Übertherapie. Aus asymptomatischen, gesunden Menschen würden Kranke gemacht, verbunden mit Angst, Stigmatisierung sowie einem Eingriff in den persönlichen Lebenswandel.

Eine erhöhte Nüchternplasmaglukose oder eine Glukosetoleranzstörung sei weder eine Erkrankung noch eine Vorstufe des Diabetes mellitus, sondern allenfalls ein Risikofaktor für die Entwicklung eines Typ-2-Diabetes. Ein Prädiabetes existiere nicht und werde auch in der NVL nicht mehr erwähnt. Er plädierte für die Abschaffung des „Graubereiches“ bis 126 mg/dl.

Quelle: XXXIV. Internationaler Fortbildungskurs in praktisch-klinischer Diabetologie in Jena

Mögliche Interessenkonflikte:

Dr. Johanna Brix: Honorare von AstraZeneca, Boehringer Ingelheim, Eli Lilly, MSD, Novo Nordisk, Sanofi Aventis

Dr. Kai Mehrländer hat keine Interessenkonflikte angegeben.

Literatur:

  1. Huang JY et al. Diabetes Care 2023; 46:190-96
  2. Lind M et al. Diabetes Care 2021; 44:2231-2237
  3. Cai X et al. BMJ 2020; 370:m2297
  4. Vistisen D et al. Diabetes Care 2018; 41:899-906
  5. Carlsson LMS et al. Lancet Diabetes Endocrinol 2017; 5:271-279
  6. Simmons RK et al. Lancet 2012; 380:1741-48
  7. Kantartzis K et al. Innere Medizin 2023; 64:636-641
  8. Richter B et al. Cochrane Database Syst Rev 2018; 10:CD012661
  9. Hemmingsen B et al. Cochrane Database Syst Rev 2017; 12:CD003054
  10. Zucatti KP et al. Diab Care 2022; 45:2787-95
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