Laut dem Deutschen Diabetesbericht 2018 sind in Deutschland zwischensechs und sieben Millionen Menschen an Diabetes mellitus erkrankt. Jedes Jahr kommen ca. 300.000 Neuerkrankungen hinzu. Zwei bis zehn Prozent aller an Diabetes mellitus Erkrankten entwickeln im Lauf ihres Lebens ein Fußulkus, das als Spätfolge in einer Amputation enden kann. Jährlich werden aufgrund von Durchblutungsstörungen und Infektionen bei Menschen mit Diabetes mellitus 12.000 Major- sowie knapp 30.000 Minoramputationen durchgeführt.
Diabetisches Fußsyndrom
Die Begrifflichkeit diabetisches Fußsyndrom fasst verschiedene pathophysiologische Veränderungen an den Füßen von Menschen mit Diabetes mellitus zusammen, z. B. Pilzbefall, Hyperkeratosen, Rhagaden, Nagelbettentzündungen, Infektionen, Deformitäten bis hin zum Zusammenbruch des Fußgewölbes und Ulzerationen. Zu ca. 50 Prozent leiden die Betroffenen an einer Polyneuropathie, 15 Prozent haben eine periphere arterielle Verschlusskrankheit und etwa 35 Prozent eine Mischung aus beiden.
Die Haut bei Menschen mit Polyneuropathie ist warm, rosig, trocken, rissig (Rhagaden) und zeigt oft Pilzbefall. Der Betroffene verspürt Missempfindungen, wie Kribbeln und Taubheitsgefühle, d. h. sein Schmerz- und Temperaturempfinden ist stark eingeschränkt oder gar nicht mehr vorhanden. Daraus resultiert ein erhöhtes Verletzungsrisiko. Der Betroffene nimmt seinen Fuß nicht mehr als Teil seines Körpers wahr, so dass Ulzerationen häufig unbemerkt entstehen und regelrecht heruntergespielt werden. Das Krankheitsverständnis ist oft nicht vorhanden, so dass eine Einsicht in die Therapieerfordernisse fehlt.
Aufgrund der gestörten Empfindung ist der normale Abrollvorgang beim Laufen gestört, so dass das Gangbild wackelig und unsicher ist. In der Folge verändert sich die Fußstatik. Neben der Ausbildung von Gelenkschwellungen, Hohl-, Senk- und Spreizfuß sowie Krallen- und Hammerzehen (Abb. 1) kann als Spätfolge das Fußgewölbe regelrecht zusammenbrechen (Charcot-Fuß). Zudem bildet sich aufgrund der unphysiologischen Druckbelastung beim Gehen an druckempfindlichen Stellen verstärkt Hornhaut (Hyperkeratosen) aus. Darunter entsteht in der Folge oft ein Druckulkus (Abb. 2).
Die periphere arterielle Verschlusskrankheit führt durch Verengungen und Verschlüsse der Arterien zu einer Minderung oder Unterbrechung des Blutflusses. Typische Symptome sind blasse, livide sowie dünne Haut, kalte, meist unbehaarte Füße, Wadenkrämpfe, Claudicatio intermittens, Ruheschmerz im Liegen mit Linderung durch Heraushängen der Füße aus dem Bett, intaktes Berührungs-, Schmerz- und Temperaturempfinden. Wunden entstehen meist in der Peripherie an Extremitätenenden wie den Zehen und sind meist sehr schmerzhaft.
Facetten der Therapie
Die erfolgreiche Therapie des diabetischen Fußsyndroms erfordert eine interdisziplinäreundinterprofessionelleZusammenarbeit nach gleichen Standards vieler verschiedener Berufsgruppen wie Hausärzten, Internisten/Diabetologen, Gefäßchirurgen, Angiologen, Dermatologen, Pflegefachkräften, Wundexperten, Apothekern, Podologen, Diabetesberatern, Ernährungsberatern, Physiotherapeuten und Orthopädie-Schuhtechnikern.
In Disease-Management-Programmen (DMP) für Menschen mit Diabetes mellitus wird der Betroffene durch die Therapie geleitet, gleichzeitig die Versorgungsqualität erhöht sowie der Informationsfluss im Be- handlungsteam verbessert. Zeitnahe Über- weisungen zu Spezialisten oder in bundesweit verfügbare Fußambulanzen/-zentren sowie Diabeteszentren können ebenfalls dazu beitragen, eine Optimierung der Therapie zu erreichen und einer Verschlechterung vorzubeugen. Laut Publikationen gibt es unter einer spezialisierten Behandlung weniger Komplikationen und Majoramputationen, und es sind weniger stationäre Aufenthalte notwendig.
Für eine erfolgreiche Therapie des diabetischen Fußsyndroms ist eine gute Stoffwechseleinstellung, d.h. eine Optimierung der Blutzuckerwerte, erforderlich. Optimal ist die Nutzung eines Diabetespasses, der Aufschluss über Veränderungen gibt und eine Verlaufskontrolle ermöglicht. Zudem ist der Gefäßstatus zu überprüfen. Bei Bedarf sollten zeitnah Maßnahmen zur Revaskularisierung, z.B. Bypassoperation, Gefäßdilatation oder eine Stenteinlage, erfolgen. Eventuell sind chirurgische Eingriffe wie Hallux-valgus-Operation, Resektion des Mittelfußknochens, Charcot-Fuß-Operation sowie Minor- oder Majoramputationen erforderlich.
Cave: Vor Amputationen ist grundsätzlich eine Zweitmeinung einzuholen!
Den Druck nehmen
Im Fokus der lokalen Therapie steht die adäquate Druckentlastung, ohne die keine Abheilung von diabetischen Fußulzerationen möglich ist. Hierfür sind orthopädische Schuhe und spezielle Orthesen wie der Total Contact Cast in Zwei-Schalen-Technik (TCC), orthetische Vakuum-Stützsysteme (Abb. 3), Interimsschuhe oder Langzeitverbandschuhe erhältlich. Optimal ist eine enge Zusammenarbeit mit einem Orthopädie-Schuhtechniker. Als Grundausstattung erhält der Betroffene 2 Paar Straßen- und 1 Paar Hausschuhe verordnet. Nach 2 Jahren sind neue Straßen- und nach 4 Jahren Hausschuhe verordnungs- und erstattungsfähig.
Cave: Kein Einsatz von Vorfußentlastungsschuhen! Durch die keilförmige Aussparung im Vorfußbereich kann der Betroffene nicht abrollen, versucht aber dennoch, damit “normal” zu gehen. Sein unsicheres Gangbild wird so noch verstärkt, während sich gleichzeitig das Sturzrisiko erhöht. Ein Vorfußentlastungsschuh wird so zum Vorfußbelastungsschuh!
Eine unterstützende, effektive Option zur Druckentlastung ist das sogenannte Filzen. Bei dieser Methode werden selbstklebende Filzplatten zur Entlastung des diabetischen Druckulkus bedarfsgerecht zurechtgeschnitten und mit Klebevlies fixiert (Abb. 4a-d). Insbesondere, wenn der Betroffene ohne seine entlastenden Schuhe in der Wohnung umhergeht, ist durch die angebrachte Filzversorgung eine permanente Druckentlastung gewährleistet.
Podologische Komplexbehandlung
In regelmäßigen Abständen von vier bis sechs Wochen sollten Betroffene eine podologische Komplexbehandlung erhalten. Diese beinhaltet die regelmäßige Fuß-, Nagel-, Hautinspektion und -pflege, die Behandlung krankhaft verdickter und eingewachsener Zehennägel sowie das Abtragen von Hyperkeratosen (siehe Info-Kasten).
Angepasste Hautpflege
Bei Polyneuropathie liegt eine reduzierte Schweißproduktion vor, so dass die Haut des Betroffenen schuppig, trocken und rissig ist. Daher bedarf diese einer intensiven Pflege. Gut geeignet sind Cremes oder Pflegeschäume auf Wasser-in-Öl-Basis mit Feuchthaltefaktoren wie Urea, die schnell einziehen.
Cave: Zur Vorbeugung von Pilzbefall und Mazerationen → Zehenzwischenräume bei der Pflege aussparen!
Wundversorgung
Nur eine saubere Wunde kann heilen. Daher erfolgt zu Beginn eine adäquate Wundreinigung von avitalem Gewebe sowie der Abtragung von Hyperkeratosen (Abb. 5).
Cave: Trockene Nekrosen bei arteriellen oder gemischt arteriell-neuropatischen diabetischen Ulzera sind erst im Anschluss an eine erfolgreiche Revaskularisierung oder zur Entlastung akuter Infektionen zu entfernen. Bis dahin sind nur trockene Verbandwechsel mit sterilen Kompressen durchzuführen!
Bei Wundinfektionen sollte zeitnah eine Infektbehandlung erfolgen. Zur Therapie von lokalen Infekten stehen zeitgemäße Antiseptika mit Octenidin oder Polihexanid, zur Verfügung. Zudem gibt es verschiedene antiseptische Wundauflagen mit Silber oder Polihexanid (PHMB) sowie hydrophobe Produkte. Letztere binden die Keime und entfernen sie beim Verbandwechsel. Liegt ein systemischer Infekt vor, sollte nach Antibiogrammbestimmung eine systemische Antibiotikagabe erfolgen.
Cave: Da ein Keim nur einmal “umgebracht werden kann”, ist es unsinnig und unnötig kostenintensiv, mehrere keimabtötende Produkte miteinander zu kombinieren. Zudem sollte ein Infekt nach spätestens 7 bis 14 Tagen erfolgreich behandelt sein. Daher sind die genannten Antiseptika und Wundauflagen keine Dauerversorgung, sondern nur für den Zeitraum der Infektion zu nutzen.
Nach erfolgter Wundreinigung kommen zur Standardversorgung oft feinporige Polyurethanschaumverbände zum Einsatz. Zur Reinigung von Belägen eignen sich bei eher trockenen Belägen Hydrogele, bei feuchteren Belägen Alginate oder Hydrofaser. Kleine Taschen lassen sich ebenfalls mit Alginaten oder Hydrofaser versorgen. Dabei ist zu beachten, dass Produktreste bei jedem Verbandwechsel entfernt werden.
Prävention und Nachsorge
Betroffene sollten, optimalerweise zusammen mit ihren Angehörigen, halbjährlich Schulungen besuchen. Durch Diabetesberater erhalten sie allgemeine Informationen zum Krankheitsbild, zu einer diabetesgerechten Ernährung und zu notwendigen therapeutischen Maßnahmen. Zu den Schulungsinhalten gehören z. B. Blutzuckermessung (selbstständig und regelmäßig), Aspekte einer verletzungsfreien Fußpflege, geeignetes Schuhwerk und optimale Bestrumpfung, tägliche Inspektion der Füße sowie der Schuhe, inklusive Austasten vor deren Anlage sowie Informationen zu weiterführender Hilfe.
Eingeschränkte Lebenserwartung
Die Statistiken mahnen, dass nur jeder vierte Patient, der sich aufgrund seines Diabetes einer Majoramputation unterzogen hat, den Eingriff um mehr als fünf Jahre überlebt. Nach Minoramputationen leben hingegen 80 Prozent der an Diabetes Erkrankten noch länger als nur weitere fünf Jahre. Ein solcher Eingriff wirkt sich also nicht nur erheblich auf den selbstgestalteten Alltag und die Lebensqualität des Betroffenen aus, er beeinflusst zudem die Lebenserwartung. Betroffene sollten daher keine Scheu vor dem Einholen einer Zweitmeinung haben, die beispielsweise in einem auf ihr Krankheitsbild spezialisierten Gefäßzentrum eingeholt werden kann.
Literatur bei der Verfasserin. Mögliche Interessenkonflikte: Honorare für Beratungen und/oder Vorträge von BSN medical, Coloplast,Convatec, Mölnlycke Healthcare, KCI Medizinprodukte, Paul Hartmann, Lohmann & Rauscher, URGO, Sastomed und Smith & Nephew.