Diabetes ist hierzulande eine sehr häufige Krankheit – schätzungsweise 1,8 Mio. Erwerbstätige leiden darunter, davon etwa 400.000 mit Insulintherapie. Dennoch ging in den zurückliegenden Jahren jeweils nur ein sehr kleiner Teil der Diabetiker aufgrund verminderter Erwerbsfähigkeit vorzeitig in Rente (etwa 2.000 Menschen im Jahr 2012).
Wie Dr. Peter Hübner aus Bonn darlegte, stehen für Patienten mit gesundheitlichen Einschränkungen aufgrund von Diabetes zahlreiche Möglichkeiten zur Verfügung, dennoch im Beruf zu verbleiben oder sich wieder einzugliedern.
Diese betreffen einerseits medizinische Maßnahmen, andererseits berufliche Anpassungen und Weiterbildungen. "Sagen Sie zu Ihren Patienten niemals vorschnell: Gehen sie am besten in Rente", mahnte Hübner. Denn eine negative Perspektive des Arztes wirkt sich nachteilig auf die Leistungsfähigkeit des Patienten aus. Häufig übernimmt der Patient diese Einstellung unbewusst und beginnt jede Rehabilitationsmaßnahme mit der inneren Haltung: ‚aus mir wird ja doch nichts mehr‘. Diese ‚subjektive Prognose der Erwerbstätigkeit‘ gilt mittlerweile als entscheidende Vorhersagegröße für die Rückkehr an den Arbeitsplatz. Wie versorgungs-epidemiologische Studien zeigten, leiden Menschen mit negativer subjektiver Erwerbsprognose stärker unter Schmerzen und weisen eine geringere körperliche Funktionsfähigkeit auf.
Risikogruppen
Mit einer starken Leistungseinschränkung von Typ-2-Diabetikern ist insbesondere bei älteren, multimorbiden Patienten zu rechnen. Sie haben nicht nur mit den Folgen des Diabetes zu kämpfen, sondern zudem häufig mit Bluthochdruck, koronaren Herzerkrankungen oder Gelenkerkrankungen. Zu den sozialmedizinischen Risikogruppen zählen laut Hübner folgende Gruppen von Diabetes-Patienten: Erstens Typ-1-Diabetiker mit zahlreichen Hypogly-kämien. Einer Studie zufolge treten bei 19 Prozent der Berufstätigen mit Typ-1- Diabetes zwei oder mehr schwere Hypoglykämien jährlich auf. Die Mehrheit (66 Prozent) erleidet jedoch keine Hypoglykämien. Die zweite Gruppe umfasst Patienten mit langjährigem Typ-1-Diabetes und eingeschränkter Sehfähigkeit aufgrund einer Retinopathie. Die dritte Gruppe stellen Patienten mit Neuropathie, die laut Untersuchungen eine Verdoppelung der Fehltage am Arbeitsplatz aufweisen.
Fallbeispiel
Einen typischen Fall aus der Hausarztpraxis schilderte Hübner anhand eines 54-jährigen Maschinenbauers mit Typ-2-Diabetes seit 16 Jahren. Der Mann leidet unter chronischer Hyperglykämie bei Insulinmangel (HbA1c-Wert: 10,6 Prozent) und einer ausgeprägten schmerzhaften sensomotorischen Polyneuropathie beider Beine – ohne ausreichende Schmerztherapie. Er ist chronisch müde und hat Polyurie. Aktuell zeigt er ein Rezidiv eines diabetischen Fußsyndroms (plantarer Ulkus unter dem Großzehenballen). Vor einem Jahr wurde ihm die rechte Großzehe amputiert, weshalb er eine deutliche Stolperneigung aufweist. Als Schichtführer in einer Chemiefabrik (Wechselschicht) muss er Arbeitssicherheitsschuhe tragen. Hinzu kommen ein schädlicher Alkoholkonsum sowie depressive Episoden und sexuelle Funktionsstörungen. "Aufgrund seiner eingeschränkten Mobilität erreicht er weder seinen Arbeitsplatz noch kann er dort die erforderlichen Gehstrecken bewältigen oder die Arbeitsschuhe tragen", verdeutlichte der Referent. Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung drängt den Mann daher, einen Rentenantrag zu stellen.
Medizinische Maßnahmen
Zunächst sollte laut Hübner die Stoffwechsellage des Patienten verbessert (HbA1c-Wert < 7,5 Prozent) und eine intensivierte Insulintherapie besprochen und erprobt werden. Auch eine effektive Schmerztherapie ist dringend erforderlich, um den Nachtschlaf und die kognitive Leistungsfähigkeit zu verbessern. Da Alkohol die neuropathischen Beschwerden verschlechtern kann, ist die Suchtproblematik ebenfalls anzugehen. Weiterhin sind die Depression sowie die sexuelle Funktionsstörung behandlungsbedürftig. "Bei komplexen Fällen wie diesem, ist eine Anbindung an eine Diabetes-Schwerpunktpraxis sinnvoll", erklärte Hübner.
Unterstützungssysteme und Ansprechpartner
Der vorgestellte Patient weist sowohl hinsichtlich der privaten Mobilität als auch im Beruf große Einschränkungen auf. Dennoch bestehen auch für ihn noch gute Möglichkeiten, berufstätig zu bleiben. Denn wie Hübner betonte, gibt es in Deutschland ein gut entwickeltes Unterstützungssystem für teilhabe-gefährdete Menschen. Das Ziel dieser ‚Leistungen zur Teilhabe‘ besteht unter anderem darin, "die Teilnahme am Arbeitsleben entsprechend den Neigungen und Fähigkeiten dauerhaft zu sichern" (§4 SGB IX). "Um dieses Ziel zu erreichen, liegt viel Geld in den Töpfen der Kostenträger, man muss nur wissen, wie man im Sinne seiner Patienten herankommt", betonte Hübner.
So beinhalten die ‚Leistungen zur medizinischen Rehabilitation‘ etwa die Stellung bzw. Vermittlung von Hilfsmitteln. Im beschriebenen Fall wären dies beispielsweise Diabetiker-gerechte Arbeitssicherheitsschuhe, als Leistung der deutschen Rentenversicherung (DRV). Und selbst die Umrüstung eines Autos auf Handbetrieb ist im Portfolio der DRV enthalten.
Vorgesehen sind außerdem Leistungen an den Arbeitgeber, damit die Anpassung des Arbeitsplatzes nicht (nur) zu dessen Lasten geht. Als innerbetriebliche Maßnahme käme dem Patienten eine neue, überwiegend im Sitzen ausgeführte Tätigkeit sowie regelmäßige Arbeitszeiten (ohne Schichteinteilung) entgegen. Dafür ist eine Umschulung erforderlich – ebenfalls eine ‚Leistung zur medizinischen Rehabilitation‘. Kostenträger ist in erster Linie die DRV in Einzelfällen auch die Bundesanstalt für Arbeit, Berufsgenossenschaften oder Integrationsämter. Hübner empfiehlt, sich an den Reha-Fachberater der jeweiligen Organisation zu wenden. Im vorliegenden Fall konnte der Mann nach einer Umschulung im Betrieb bleiben.
Quelle: Fortbildungsveranstaltung "Diabetologie grenzenlos" in München.