Depressive Störungen gehören mit einer Lebenszeitprävalenz von zirka 25 Prozent bei Frauen und etwa 12 Prozent bei Männern neben den Angststörungen und Suchterkrankungen zu den häufigsten psychischen Störungen. Die meisten der vor allem leicht und mittelschwer erkrankten Patienten werden vom Hausarzt behandelt. Dem Hausarzt kommt damit eine Schlüsselrolle in der primären Weichenstellung der Behandlung zu.
Diagnose
Bevor eine antidepressive Therapie initiiert wird, muss die Diagnose nach ICD-10 gesichert sein. Abbildung 1 gibt einen Überblick über die operationalisierten Diagnosekriterien. Demnach muss eine entsprechende Symptomkonstellation über mindestens zwei Wochen bestehen, wobei der Zustand deutlich vom Normalzustand abweichen und deutliches Leid beim Betroffenen hervorrufen muss. Der Schweregrad der Störung wird im Wesentlichen durch die Anzahl der vorliegenden Zusatzsymptome bestimmt. In jedem Fall müssen eine andere psychische Störung und eine organische Ursache des depressiven Syndroms (z.B. Hypothyreose) ausgeschlossen werden.
Therapie
Grundsätzlich sind Antidepressiva nicht leichtfertig zu verordnen. Die neuen S3-Leitlinien von 2015 empfehlen, Antidepressiva bei leichten Depressionen sehr zurückhaltend einzusetzen, da die Überlegenheit gegenüber Placebo erst bei mittelschweren bis schweren Depressionen deutlich wird und damit das Nutzen-Risiko-Verhältnis bei leichten Depressionen ungünstig ist. Bei leichten Depressionen sollten Beratung, psychoedukativ-supportive Gespräche, qualifizierte angeleitete Selbsthilfe (z.B. Selbsthilfebücher/Online-Programme), Problemlöseansätze und damit Techniken der psychiatrisch-psychotherapeutischen bzw. psychosomatischen Grundversorgung zum Einsatz kommen. Darüber hinaus sollte körperliche Aktivierung empfohlen und unterstützt werden.
Bei mittelschweren und schweren Depressionen soll dem Patienten zusätzlich ein Antidepressivum angeboten werden. Bei mittelschweren Depressionen kann das gut verträgliche Johanniskraut verordnet werden (wobei Photosensibilität und Enzym-induktion in der Leber zu beachten sind), bei (mittel-) schweren Depressionen sollte ein SSRI zum Einsatz kommen. Hier empfehlen sich wegen des besten Nutzen-Risiko-Verhältnisses als Mittel der 1. Wahl Sertralin und (Es)Citalopram, wobei letzteres häufiger zu QT-Zeit-Verlängerungen führt.
Insbesondere bei Unruhe, ausgeprägten Schlafstörungen und Suizidalität sollte eine sedierende Komedikation mit einem Benzodiazepin oder einem niederpotenten Antipsychotikum erfolgen und ggf. ein Psychiater hinzugezogen werden. Die älteren SSRI wie Paroxetin, Fluvoxamin und Fluoxetin sollten wegen der häufigeren Wechselwirkungen nicht primär eingesetzt werden. Bei Schlafstörungen ist auch Mirtazapin eine Alternative, das aber schwächer als die genannten SSRI wirkt und häufig zu Gewichtszunahme führt.
Tab. 1 enthält eine Übersicht über eine sinnvolle Stufentherapie mit Antidepressiva bei mittelschweren bis schweren Depressionen. Die Therapie der Stufe 1 und 2 kann beim Hausarzt durchgeführt werden, sie ist vom Erfahrungsgrad des einzelnen Arztes abhängig. In den ersten vier Behandlungswochen wird ein wöchentliches Monitoring, danach in größeren Intervallen empfohlen. Spätestens nach vier Wochen sollte eine genaue Wirkungsprüfung erfolgen und entschieden werden, ob ein Wechsel oder eine Ergänzung der Behandlungsstrategie indiziert ist oder nicht. Sollte es nach der Durchführung dieser beiden Behandlungsschritte nach 2 × 1 Monat zu keiner Besserung kommen, sollte spätestens die Überweisung zum Facharzt erfolgen.
Neue oder bewährte Antidepressiva?
Seit 2009 wurden drei neue Antidepressiva in Deutschland auf den Markt gebracht, so dass sich die Frage stellt, ob diese gegenüber den bereits zur Verfügung stehenden Antidepressiva gleichwertig oder bevorzugt zu verordnen sind und ob sich eine Differenzialindikation für deren Einsatz ergibt.
Zu den neuen Substanzen gehören das im Jahr 2009 eingeführte Agomelatin, ein Serotonin-2-Rezeptor-Antagonist und Melatonin-Agonist, das bereits in anderen Ländern schon länger auf dem Markt befindliche und 2012 in Deutschland eingeführte Tianeptin, ein Serotonin-Wiederaufnahme-Verstärker und Modulator am glutamatergen System, und das 2015 eingeführte Vortioxetin, ein SSRI und Serotonin-Rezeptor-Modulator.
Keines der drei neu eingeführten Antidepressiva ist eine Alternative zu bewährten Substanzen. Agomelatin hat bei Berücksichtigung aller Studien eine Effektstärke von 0,2, die damit deutlich unter der mittleren Effektstärke von Antidepressiva von ca. 0,4 liegt; darüber hinaus führt es vergleichsweise häufig zu Leberschäden. Tianeptin hat ein erhöhtes Abhängigkeitsrisiko, so dass in Frankreich der Gebrauch eingeschränkt wurde. Das IQWiG hat Vortioxetin keine Überlegenheit gegenüber den bereits auf dem Markt befindlichen Antidepressiva bescheinigt, weshalb die Firma die Substanz in Deutschland wieder vom Markt nahm. Der stark beworbene positive Effekt auf kognitive Domänen wurde nur in einer Studie untersucht und ist daher mit Vorsicht zu interpretieren.
Antidepressiva oder Psychotherapie?
Grundsätzlich sollten die Patienten darüber informiert werden, dass eine Psychotherapie bei der Behandlung depressiver Störungen, insbesondere bei entsprechender Patientenpräferenz, eine Alternative ist. Als wirksamste Verfahren – mit vergleichbarer Effektstärke wie Antidepressiva – können die kognitive Verhaltenstherapie und die interpersonelle Psychotherapie empfohlen werden.
Indiziert ist eine Psychotherapie bei mittelschweren bis schweren Depressionen, die ambulant behandelbar sind und wenn Medikamente nicht ausreichend wirken. Die Kombination mit Antidepressiva ist einer Monotherapie mit Psychotherapie oder einem Antidepressivum überlegen. Vor- und Nachteile von Psycho- bzw. Pharmakotherapie sind in Tab. 2 aufgeführt.
Aufgrund des fördernden Effekts auf den Rückfallschutz sollte eine Psychotherapie insbesondere Patienten mit wiederkehrenden Episoden angeboten werden. Im Vergleich zur Psychotherapie setzen die Medikamenteneffekte schneller ein. Erst in den letzten Jahren wurde deutlich, dass bis zu 30 Prozent der Patienten Schwierigkeiten haben, lang verordnete Antidepressiva wegen Absetzphänomenen wieder abzusetzen. Auch das sollte ein Grund sein, die Verordnung von Antidepressiva sorgfältig zu prüfen.
Erhaltungs- und Langzeittherapie
Nach einer depressiven Episode, die voll abgeklungen ist, sollte eine Erhaltungstherapie mit der vollen Dosis des Antidepressivums, das zur Remission geführt hatte, für vier bis neun Monate durchgeführt werden. Zur Stabilisierung des Therapieerfolgs sowie zur Senkung des Rückfallrisikos soll im Anschluss an eine Akutbehandlung eine angemessene psychotherapeutische Nachbehandlung angeboten werden.
Patienten mit zwei oder mehr depressiven Episoden mit bedeutsamen funktionellen Einschränkungen in der jüngeren Vergangenheit (innerhalb der letzten fünf Jahre) sollten dazu angehalten werden, das Antidepressivum mindestens zwei Jahre lang zur Langzeitprophylaxe einzunehmen. Das Absetzen eines Antidepressivums darf nie abrupt erfolgen. Um Absetzphänomene zu verhindern, sollte die Dosis über Wochen sehr langsam reduziert werden. Das senkt wahrscheinlich auch die Rückfallgefahr.
Fazit
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Therapieplanung und -monitoring von Depressionen erfolgen je nach Schweregrad der Störung.
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Antidepressiva sollten nicht leichtfertig eingesetzt werden; bei leichten Depressionen sollten sie in der Regel vermieden werden.
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Sertralin ist das Antidepressivum der ersten Wahl.
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Patienten müssen über mögliche Entzugssyndrome beim Absetzen vor allem von SSRI aufgeklärt werden.
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Eine Erhaltungstherapie sollte für 4 bis 9 Monate, eine Rezidivprophylaxe (bei 2 Phasen innerhalb von 5 Jahren) für mindestens 2 Jahre erfolgen.
Literatur beim Verfasser.
Interessenkonflikte: Prof. Klaus Lieb hat seit 2008 keine Honorare für Beratertätigkeiten, Fortbildungsveranstaltungen, Vorträge oder Stellungnahmen von pharmazeutischen Unternehmen oder Medizinprodukteherstellern erhalten. Für die Durchführung von klinischen Auftragsstudien oder anderen Forschungsvorhaben erhielten Mitarbeiter seiner Klinik in den letzten drei Jahren Zuwendungen auf ein Drittmittelkonto von D&A Pharma, Hoffmann La Roche, Janssen-Cilag, INC Research, Roche Pharma und Roche Products Limited. Er ist seit 2006 Mitglied der Initiative MEZIS e.V. und seit 2014 Vorsitzender des Fachausschusses Transparenz und Unabhängigkeit bei der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ). Prof. Lieb erhält von der Akademie für ärztliche Fortbildung Rheinland Pfalz Honorare für die Durchführung der unabhängigen Fortbildungsreihe Psychiatrie und Psychotherapie und ist wissenschaftlicher Leiter von LIBERMED, die ab 2017 unabhängige Fortbildungen anbietet.