Die Prävalenz von Adipositas ist in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen: Der WHO zufolge hat sich die Zahl der Betroffenen seit 1975 verdreifacht. Laut GEDA-Studie des Robert-Koch-Instituts von 2017 sind circa zwei Drittel der Männer (67 Prozent) und mehr als die Hälfte der Frauen (53 Prozent) in Deutschland übergewichtig; ein Viertel der Deutschen ist adipös (23 Prozent der Männer und 24 Prozent der Frauen).
Menschen mit Adipositas haben ein hohes Risiko für unter anderem metabolische Folgeerkrankungen, was entscheidend zu ihrer erhöhten Mortalität beiträgt. Darüber hinaus liegt die Wahrscheinlichkeit um etwa 25 Prozent höher, dass sie an einer affektiven Störung (zum Beispiel Depression oder bipolaren Störung) oder Angststörung (etwa Panikstörung oder Agoraphobie) erkranken.
Zusätzlich kann eine Adipositas auch als Folge einer zuvor bestehenden Essstörung bestehen. So zeigte eine repräsentative US-amerikanische Studie, dass 42 Prozent der Menschen mit einer Binge-Eating-Störung zum Zeitpunkt der Studie auch adipös waren.
An Binge-Eating denken
Bei der Binge-Eating-Störung handelt es sich um eine Essstörung mit wiederkehrenden Essanfällen, bei denen (anders als bei der Bulimia nervosa) keine gegenregulierenden Handlungen erfolgen. Als Ursache für die Binge-Eating-Störung wird vor allem eine Störung der Affektregulation vermutet. Die Essanfälle dienen der subjektiven Reduktion von unangenehmen Gefühlen wie Einsamkeit, Angst oder Wut.
Da die Binge-Eating-Störung eine neue und für manche praktizierenden Ärzte unbekannte Diagnose ist, wird sie bei Routine-Untersuchungen entsprechend häufiger übersehen. Vorgeschlagene oder gemeinsam erarbeitete Maßnahmen gegen die Adipositas schlagen dann oft fehl, weil die Ursache weniger in Ernährung und fehlender Bewegung liegt, sondern vielmehr bei psychologischen Faktoren, die zuerst behandelt werden müssten.
Auch anderes abweichendes oder auffälliges Essverhalten weist auf eine Essstörung hin. So gibt es neben dem emotionalen Essen Fälle von wiederkehrender Nahrungsaufnahme nach dem nächtlichen Erwachen (Night-Eating-Syndrom), Einnehmen kleinerer Snacks (teils ohne Hungergefühle) über den gesamten Tag verteilt (Grazing-/Picking-Verhalten) oder auch Essanfälle mit anschließenden gegenregulatorischen Maßnahmen wie Erbrechen oder das Einnehmen von Abführmitteln.
Praxistipp Nr. 1: Erörtern Sie die (psychischen) Vordiagnosen und fragen Sie typische psychische Komorbiditäten ab. Überweisen Sie bei Hinweisen auf eine affektive Störung, Angststörungen oder auffälligem, abweichendem Essverhalten an niedergelassene ärztlich/psychologische Psychotherapeuten oder in Spezialambulanzen.
“Fat Shaming” stoppen
Stigmatisierung ist ein Prozess, der Menschen aufgrund bestimmter Merkmale (wie Übergewicht) in Kategorien einordnet. Daraus kann sich eine Ungleichbehandlung, Benachteiligung oder Ausgrenzung entwickeln. Neben der gesundheitlichen Belastung durch assoziierte Krankheiten wie Diabetes, kardiovaskuläre Erkrankungen und Arthrose sind viele Menschen mit Adipositas zusätzlich von Stigmatisierung, Ausgrenzung und Diskriminierung betroffen.
Laut dem XXL-Report der Krankenkasse DAK-Gesundheit meidet beispielsweise jeder Achte den Kontakt zu Übergewichtigen. Die Diskriminierung von Menschen mit Adipositas wird oft als “Fat Shaming” bezeichnet – ein stigmatisierenden Begriff, der sich vor allem in den sozialen Medien wiederfindet. In der Schule und im Beruf erleben die Betroffenen häufiger Mobbing, sie werden seltener eingestellt und haben Schwierigkeiten, den Beamtenstatus zu erlangen.
Neben sozialer Diskriminierung erfahren Menschen mit Adipositas auch im Gesundheitssystem überproportional viel Abwertungen oder Benachteiligungen. Folgen sind eine mangelnde Gesundheitsversorgungsmöglichkeit und eine geringere Behandlungszeit. Auch befinden sich in Arztpraxen oft Sitzmöglichkeiten, die für Menschen mit Adipositas nicht geeignet sind.
Während der letzten Jahrzehnte wurden diverse Studien mit den häufigsten Stereotypen zu Adipositas veröffentlicht. Die meist genannten Assoziationen waren “unattraktiv”, “faul”, “unmotiviert”, “Mangel an Selbstdisziplin”, “weniger kompetent”, “weniger compliant” und “schmutzig”. Betroffene werden oft für ihr Übergewicht verantwortlich gemacht, was die Assoziationen “faul” und “Mangel an Selbstdisziplin” verdeutlichen.
Im beruflichen Kontext werden adipöse Angestellte als Menschen mit “weniger Führungspotenzial” wahrgenommen. Im Vergleich mit Normalgewichtigen wird ihnen “geringerer beruflicher Erfolg” zugesprochen.
Praxistipp Nr. 2: Achten Sie im Umgang mit Menschen mit Adipositas darauf, dass Sie diese nicht unabsichtlich abwerten oder benachteiligen. Fragen Sie sich, ob Sie sich bei jemanden mit Normalgewicht für die gleiche Behandlungsdauer und -maßnahme entschieden hätten.
Praxistipp Nr. 3: Schauen Sie sich Ihre Praxisräume mit der “Diskriminierungsbrille” an. Ist genug Platz für Menschen mit Adipositas, um überall bequem durch zu kommen? Haben Ihre Stühle seitliche Lehnen, die schmerzhaft sein könnten?
Scham beim Arztbesuch
Neben der sehr greifbaren psychischen Beeinträchtigung und strukturellen Benachteiligung können Erfahrungen von Ausgrenzung, Stigmatisierung und Diskriminierung zur Aufrechterhaltung oder sogar Steigerung des Gewichts und Verschärfung von Komorbiditäten beitragen.
Zum Beispiel führt “Fat Shaming” bei den Betroffenen in einem Teufelskreis zu (weiterem) sozialen Rückzug, um Mobbing zu vermeiden; die Hemmschwelle zum Sporttreiben wird höher und der Gang zum Arzt schambesetzter. Trotz gesundheitlicher Leiden nehmen sie ärztliche Hilfe als Folge nicht mehr in Anspruch. Auch eine zunehmende “Selbststigmatisierung” der Betroffenen führt zu mehr Stresserleben, ungesundem Essverhalten, Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper und mangelnder Motivation zu körperlicher Betätigung.
Es entsteht ein Teufelskreis aus Scham- und Schuldgefühlen sowie negativer Selbstverinnerlichungen. Dies kann vor allem unter Berücksichtigung von psychischen und körperlichen Komorbiditäten zu emotionalem Essen und Vermeidung gesundheitsfördernder Maßnahmen führen, welches dann eine weitere Gewichtszunahme begünstigen kann. Daraus wiederum resultieren mehr Scham- und Schuldgefühle und der Kreis schließt sich: