Mythos oder Fakt? Die Rede ist von der Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) bei Erwachsenen. „Früher glaubte man, dass ADHS bis ins Erwachsenenalter ausheilt, heute wissen wir dank einiger Studien, die in den letzten Jahren durchgeführt wurden, dass bei zwei Drittel der betroffenen Kinder und Jugendlichen die Symptome auch im Erwachsenenalter persistieren“, sagte Professor Esther Sobanski, Bad Dürkheim.
Ungünstige Prädiktoren für die Persistenz im Erwachsenenalter sind eine starke Ausprägung der Krankheit im Kindesalter, psychiatrische Komorbiditäten und psychopathologische Auffälligkeiten bei der Mutter. Dazu kommen Patienten, bei denen die Diagnose erst im Erwachsenenalter gestellt wird, obwohl ein genaues Befragen ergibt, dass die Erkrankung bereits in der Kindheit begonnen haben dürfte. Insgesamt liegt die ADHS-Prävalenz in Deutschland bei etwa fünf Prozent.
Zu selten diagnostiziert
Im Unterschied zu Kindern wird die Erkrankung bei Erwachsenen jedoch häufig nicht erkannt und somit auch nicht behandelt. Ursachen sind die diagnostische Unsicherheit bei vielen Ärzten und die Tatsache, dass Erwachsene durch langjährige soziale Anpassungen Coping-Strategien entwickelt haben, um die typischen ADHS-Phänomene in den Griff zu bekommen. Auch ist das klinische Bild bei Erwachsenen unspezifischer, was die Diagnosefindung erschwert. „In etwa 80 Prozent der Fälle treten komorbide Störungen auf“, so Professor Michael Rösler, Homburg/Saar. Dazu gehören Depressionen, Sucht- und Angsterkrankungen sowie Persönlichkeitsstörungen. Bei solchen Erkrankungen wird in der Regel nicht an ADHS gedacht.
Wie fast alle psychischen Störungen ist ADHS eine klinische Diagnose, die durch psychopathologische Kriterien definiert ist, ähnlich wie die Depression oder Angststörungen. Dabei werden Merkmale der Aufmerksamkeitsstörung, der Hyperaktivität und der Impulsivität erfasst. Es gibt keinen biologischen oder laborchemischen bzw. psychologischen Test, mit dem die Diagnose untermauert werden kann. Erschwert wird die Diagnose, weil Betroffene über eine sehr begrenzte Introspektionsfähigkeit verfügen, es fehlt ein „interner Maßstab“.
Wichtig ist deshalb, dass der Arzt versucht, den Krankheitsverlauf zu rekonstruieren und die ADHS-Symptome retrospektiv zu erfassen. Auch sollten andere psychische Störungen mit ähnlicher Symptomatik ausgeschlossen sein. Für die Diagnosefindung stehen standardisierte Hilfsmittel zur Verfügung, die validierte Selbst- und Fremdbeurteilungsinstrumente umfassen, die also die verschiedenen Bausteine des diagnostischen Prozesses integrieren und durch den diagnostischen Prozess leiten. Dies erleichtert auch die Dokumentation.
Welche Symptome sind diagnoseweisend?
Typisch für ADHS bei Erwachsenen sind Misserfolge in der Schule, der Ausbildung oder im Beruf. Betroffene haben das belastende Gefühl, trotz intensiver Bemühungen keinen Erfolg zu haben und ständig hinter den eigenen Möglichkeiten zu bleiben. Sie haben große Schwierigkeiten ihre Arbeit richtig zu organisieren, lassen sich leicht ablenken, springen von Aufgabe zu Aufgabe, betreiben zahlreiche Projekte parallel, aber verfolgen diese nicht bis zum Ende. Termine werden bis zum letzten Zeitpunkt aufgeschoben und häufig nicht eingehalten.
Auch können ADHS-Patienten Langeweile nicht ertragen und betreiben nicht selten Risikosportarten, was sogar die Lebenserwartung verkürzt. Ihr Leben ist bestimmt von einer ständigen inneren Unruhe, Rastlosigkeit und Unfähigkeit zu entspannen. Sie suchen ständig nach Abwechslung, neuen Anreizen und Erlebnissen. Dazu kommen emotionale Störungen mit starken Stimmungsschwankungen und Wutausbrüchen bei kleinsten Anlässen. Bei Stress oder Ärger reagieren sie stark emotional und fühlen sich ständig genervt und gestresst.
Gravierende Folgen für das soziale Umfeld
Die ADHS-Symptomatik führt zu vielfältigen Problemen in der Familie, am Arbeitsplatz und im Freundeskreis. So kommt es zu Schul- bzw. Ausbildungsabbrüchen und schließlich zur Arbeitslosigkeit. Wegen der familiären Probleme ist die Trennungs- und Scheidungsrate erhöht. Frauen haben häufiger unerwünschte Schwangerschaften und somit auch häufiger Abtreibungen.
Dazu kommt ein erhöhtes Unfallrisiko im Straßenverkehr und beim Sport. Wegen der ständigen Misserfolge und Frustrationen werden Betroffene auch häufiger straffällig, d.h. die Kriminalitätsrate ist bei Männern mit ADHS vierfach höher als bei der Normalbevölkerung. Weitere Folgen sind ein früher Einstieg in den Drogenabusus und ein deutlich erhöhtes Risiko für Suchterkrankungen.
Methylphenidat ist das Medikament der Wahl
Die ADHS-Symptome gehen in der Regel mit einem großen Leidensdruck einher. Deshalb besteht dann, wenn die Diagnose gestellt ist, die Indikation für eine medikamentöse Therapie. Das Medikament der Wahl ist das Stimulanz Methylphenidat, welches als Medikinet® adult zur Verfügung steht. Die Wirksamkeit und Sicherheit der Substanz wurde in zahlreichen Studien nachgewiesen. Dabei zeigte sich ein positiver Effekt auf den Schulerfolg, das Fahrverhalten, die Aggression, die berufliche Integration und die Straffälligkeit, mit anderen Worten Methylphenidat schützt vor den funktionellen Einschränkungen im Alltag.
„Die Effektivität der Behandlung mit Methylphenidat ist auch im Vergleich zu anderen Psychopharmaka hoch, die Number Needed to Treat beträgt nur 3“, so Rösler. Das Therapieergebnis sei abhängig von der Schwere der Erkrankung und dem Alter, d.h. jüngere und schwerkranke Patienten profitieren stärker von der Therapie. Die Einstellung sollte individuell und adaptiv mit langsam in wöchentlichen Abständen steigenden Dosierungen erfolgen. Typische unerwünschte Nebenwirkungen, die in der Regel in der Aufdosierungsphase auftreten, sind Appetitminderung, Übelkeit, Erbrechen, Gewichtsverlust, Herzklopfen und Blutdruckanstieg. Langfristige schädliche Wirkungen sind nicht bekannt.
Quelle: DGPPN-Kongress 2015 in Berlin