Am 29. Januar 1951 betritt die 31-jährige Henrietta Lacks das Johns-Hopkins-Krankenhaus, die einzige Klinik in Baltimore, die zu dieser Zeit People of Colour (PoC) behandelt. Seit der Geburt ihres fünften Kindes im Jahr zuvor leidet sie an starken Vaginalblutungen, bei einer Selbstuntersuchung hat sie einen Knoten an ihrer Gebärmutter entdeckt.
Der diensthabende Gynäkologe entnimmt ein Stück Gewebe und schickt die Probe an die Pathologie. Nach einer Woche erhält Henrietta Lacks das Ergebnis: Zervixkarzinom, Stadium I. Für den Gynäkologen ungewöhnlich: “Der Fall ist interessant, da Henrietta Lacks am 19. September 1950 in dieser Klinik entbunden hat und weder bei der Entbindung noch bei einer Kontrolluntersuchung sechs Wochen später eine Abnormalität der Zervix‘ festgestellt wurde”, notiert er [1]. Entweder hatten die Gynäkologen den Tumor übersehen – was unwahrscheinlich schien – oder er war unfassbar schnell gewachsen.
Einen Tag, nachdem sie das Ergebnis der Pathologie erhalten hat, betritt Henrietta Lacks erneut das Johns-Hopkins-Krankenhaus, um sich behandeln zu lassen. Sie wird unter Narkose gesetzt und erhält eine Strahlentherapie mit radioaktivem Radium, die Standardtherapie zu dieser Zeit.
Zellen, die die Welt verändern
Allerdings entnimmt der behandelnde Arzt ihr ohne ihr Wissen zwei münzgroße Gewebeproben – eine aus dem Tumorgewebe, eine aus dem gesunden Gewebe – und schickt die Proben an Dr. George Gey, dem Leiter der Abteilung für Gewebekulturforschung am Johns-Hopkins-Krankenhaus. Nach ihrem Einverständnis wird Henrietta Lacks nicht gefragt, was zu der damaligen Zeit aber auch nicht üblich war.
Gey kennzeichnet die Proben nach den Anfangsbuchstaben der Patientin mit dem Kürzel “HeLa”. Vier Buchstaben, die die Welt verändern sollten und heute vielen Ärztinnen und Ärzten ein Begriff sind, besonders wenn sie in der klinischen Forschung mit Zellkulturen arbeiten.
Geboren wird Henrietta Lacks am 1. August 1920 in Roanoke, Virginia. Sie geht wie ihre neun Geschwister bis zur 6. Klasse in eine Schule für PoC. Danach arbeitet sie – wie ihre ganze Familie – auf Tabakfeldern in Virginia. Mit 14 Jahren bekommt sie mit ihrem späteren Mann ihr erstes Kind, es folgen vier weitere.
Nachdem sie und ihr Mann genug Geld angespart haben, kann sich die Familie ein Haus leisten und zieht nach Baltimore. Henrietta Lacks kümmert sich nicht nur um ihre Kinder, sondern auch um die vielen Cousins, Cousinen, Tanten und Onkel der Familie.
Tod nach nur wenigen Monaten
In der Johns-Hopkins-Klinik erhält Henrietta Lacks 1951 nach ihrer ersten Bestrahlung noch einige weitere Behandlungen, die allerdings keine Wirkung zeigen. Nach zwei Monaten kann sie nur noch palliativ versorgt werden, und nur wenige Monate nach ihrer Erstdiagnose stirbt Henrietta Lacks am 4. Oktober 1951 im Alter von 31 Jahren.
Ihre Leiche wird mit Einverständnis ihres Ehemannes obduziert, wobei die Ärzte feststellen, dass sich in ihrem gesamten Körper bereits Metastasen gebildet haben – die Krebszellen haben sich mit unfassbarer Schnelligkeit ausgebreitet. Henrietta Lacks wird in einem anonymen Grab bei ihrer Familie in Virginia beigesetzt.
Ihre Zellen allerdings leben weiter: George Gey, der Leiter der Abteilung für Gewebekulturforschung, stellt in seinem Labor fest, dass sich die Krebszellen aus Henrietta Lacks‘ Tumor nicht nur ungewöhnlich schnell teilen (ungefähr 20-mal schneller als ihre gesunden Körperzellen). Sie zeigen auch nach vielen Zellzyklen in Kultur keinerlei Tendenz, ihr Wachstum einzustellen.
Für Gey eine Sensation: Seit Jahren versucht er, eine unsterbliche humane Zelllinie zu etablieren und damit die Biologie der menschlichen Zelle zu erforschen. Alle bisherigen Versuche sind gescheitert, die Zellen nach wenigen Tagen bis Wochen abgestorben.
Ganz anders verhalten sich allerdings die HeLa-Zellen. Mit ihnen gelingt es Gey erstmals, eine potenziell unsterbliche menschliche Zelllinie zu etablieren.
Bis heute ist nicht vollständig geklärt, was Henrietta Lacks‘ Zellen so aggressiv und widerstandsfähig macht. Was man weiß: Henrietta Lacks war mit dem humanen Papillomvirus 18 (HPV 18) infiziert. Ein virales Protein führte zur Inaktivierung eines Tumorsuppressorgens und trug so zur Tumorgenese bei. Außerdem war Henrietta Lacks Trägerin einer Mutation in einem HLA-Gen. Diese Gene sind für die Funktion des Immunsystems essenziell, auch diese genetische Mutation hat sehr wahrscheinlich zur Tumorgenese beigetragen.
George Gey will die Zellforschung voranbringen und verteilt ohne Gegenleistung HeLa-Zellen an Labore auf der ganzen Welt. Auch viele pharmazeutische Unternehmen erhalten die Zellen und vermarkten sie. Die Familie von Henrietta Lacks hat davon indessen keine Ahnung – während HeLa-Zellen auf dem gesamten Globus verbreitet werden und viele Unternehmen damit Profit machen, lebt Henrietta Lacks Familie in prekären Verhältnissen.
Erst im Jahr 2023, 72 Jahre nach dem Tod Henrietta Lacks‘, erhält die Familie nach einem Rechtsstreit eine finanzielle Entschädigung von dem Pharmaunternehmen Thermo Fisher Scientific [3].
HeLa-Zellen im Weltall
Heute haben Forscherinnen und Forscher mithilfe von HeLa-Zellen unter anderem das Poliovirus nachgewiesen, Chemotherapeutika entwickelt und Impfstoffe getestet. HeLa-Zellen wurden ins All geschossen, um die Effekte der Schwerelosigkeit auf menschliche Zellen zu testen, HeLa-Zellen wurden geklont, mit HeLa-Zellen wurden Nobelpreise gewonnen. HeLa-Zellen haben vermutlich Millionen Menschenleben gerettet.
Wie viele HeLa-Zellen es heute auf der Welt gibt, weiß niemand. Ein Wissenschaftler schätzt, dass das Gewicht aller Zellen zusammen bei 50 Millionen Tonnen liegt [1]. Eine absurd hohe Zahl, bedenkt man, dass das Gewicht einer menschlichen Zelle bei 2 bis 3 Nanogramm liegt (eine Tonne entspricht 1.000.000.000.000.000 Nanogramm).
Ein anderer Wissenschaftler hat berechnet, dass sich eine Kette aus allen HeLa-Zellen aneinandergereiht mit einer Länge von mehr als 100.000 Kilometern fast dreimal um die Erde wickeln ließe [1]. Dabei ist ein Ende längst nicht in Sicht: Auch heutzutage sind HeLa-Zellen eine der meistgenutzten Zellkulturlinien in wissenschaftlichen Laboren weltweit.
Quellen:
1. “The immortal life of Henrietta Lacks” von Rebecca Skloot (englisch); Verlag Pan MacMillan 2019; ISBN 978-1-5098-7702-7