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Eine weitere Therapieeskalation kann der Einsatz schwach wirksamer Opioide sein. Dazu zählen Tramadol und die Kombination Tilidin/Naloxon. Beide Medikamente stehen in retardierter (Tabletten) und nichtretardierter (Tropfen) Form zur Verfügung. Allgemein gilt, dass nichtretardierte Opioide bei chronischem nichttumorbedingtem Schmerz außer ggf. in der Einstellungsphase nicht verwendet werden sollten. Wichtig: Als Tropfen ist Tilidin/Naloxon nach der deutschen Betäubungsmittelverschreibungsverordung (BtMVV) BtM-rezeptpflichtig.
Eine solche Opioidtherapie muss spätestens 4 Wochen nach Therapiebeginn evaluiert werden, bei fortgesetzter Gabe erneut spätestens nach 3 Monaten. Wird das Therapieziel trotz Dosisanpassung nicht erreicht, soll die Gabe beendet werden.
Bei mittleren bis sehr starken Schmerzen können starke Opioide angewandt werden (ggf. in Kombination mit NSAR und/oder Koanalgetika). Morphin ist das Referenzopioid, jedoch stehen für eine Opioidrotation viele andere Opioide (Fentanyl, Hydromorphon, Oxycodon oder L-Polamidon) zur Verfügung, die nach jeweiliger Indikation, Applikationsform und Nebenerkrankungen des Patienten ausgewählt werden können [9] .
Indikationen für Opioide
Als mögliche Indikationen für Opioide nennt die Leitlinie LONTS u. a. [10] :
diabetische Polyneuropathie, postzosterische Neuralgie
chronischer Arthroseschmerz, z. B. wenn NSAR aufgrund von Begleiterkrankungen kontraindiziert sind
chronischer nichtspezifischer Kreuzschmerz
rheumatoide Arthritis (RA), wenn alle anderen Optionen ausgeschöpft sind, bei NSAR-Kontraindikationen auch früher
Wenn ein Opioid bei den genannten Schmerzarten über einen Zeitraum von 4–12 Wochen Schmerzen oder Beeinträchtigungen deutlich vermindert hat, kommt eine längere Anwendung infrage. Allerdings empfiehlt die Leitlinie LONTS [12] auch bei gutem Ansprechen nach spätestens 6 Monaten einen Reduktions- und ggf. einen Auslassversuch.
Kontraindikationen für Opioide sind:
primäre Kopfschmerzen (u. a. Migräne)
funktionelle Schmerzen (u. a. Fibromyalgiesyndrom)
chronische Schmerzen als Symptom psychischer Störungen (Depression etc.)
chronische Pankreatitis und chronisch-entzündliche Darmerkrankung
Merke: Eine Opioidtherapie muss regelmäßig evaluiert werden.
Koanalgetika
Ziel der Therapie ist es auch, über das Rückenmark aufsteigende schmerzleitende Impulse durch eine Verstärkung absteigender schmerzdämpfender Systeme zu hemmen. Als solche Koanalgetika eignen sich wegen ihres passenden Wirkmechanismus vor allem Antidepressiva. Ihre schmerzlindernde Wirkung ist relativ unabhängig von der antidepressiven Wirkung, für die analgetische Wirkung werden meist niedrigere Dosierungen benötigt. Nicht alle Antidepressiva wirken gleich gut koanalgetisch gegen Schmerzen. Es hat sich gezeigt, dass einige Antidepressiva, die auf das Noradrenalinsystem wirken, eine gute koanalgetische schmerztherapeutische Wirkung haben. Die DEGAM-Leitlinie nennt Amitriptylin und Duloxetin [7] .
Nichtmedikamentöse Schmerztherapie
Auch wenn starke Schmerzen ohne Medikamente häufig nicht ausreichend zu behandeln sind, ist die Effektivität nichtmedikamentöser Verfahren unbestritten. Zu den Grundsätzen gehört ihr begleitender Einsatz im Rahmen der multimodalen Therapie mit aufeinander abgestimmten Therapiebestandteilen [11] . Hier ist eine Abstimmung zwischen den Therapeuten wichtig, welche Ziele bei dem individuellen Patienten erreicht werden sollen und können. Die koordinierende Funktion kommt dabei häufig der Hausarztpraxis zu. Darüber hinaus gibt es eine Reihe weiterer Hinweise zur effizienten Nutzung dieser Verfahren:
frühzeitige psychologische Diagnostik
altersgerechte Auswahl der geeigneten Verfahren (z. B. Ablenkung bei Kindern)
Patientenpräferenzen beachten
kein voreiliger Ausschluss einzelner Verfahren
Die NVL Kreuzschmerzen empfiehlt allerdings klar, sich auf bewegungsfördernde Verfahren zu konzentrieren und passive Ansätze zu vermeiden.
Zu den am häufigsten eingesetzten, nichtpharmakologischen Schmerztherapieverfahren gehören:
Akupunktur: Sie hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Die NVL beschreibt, dass Akupunktur bei akuten Kreuzschmerzen in Kombination mit aktivierenden Maßnahmen und für chronische Kreuzschmerzen praktiziert werden kann [4] . Hinweis: Von der gesetzlichen Krankenversicherung wird Akupunktur nur übernommen, wenn es sich um chronische Schmerzen (> 6 Monate) handelt. Für Arthrose und Coxarthrose gibt es Hinweise auf eine Besserung der Schmerzen und Funktionalität. Für neuropathischen Schmerz sind noch zu wenige Daten verfügbar, um eine Aussage zu treffen.
Physikalische Therapie (z. B. Wärme oder Kälte): Zur Linderung akuter Schmerzen werden oft Kälte- oder Wärme-Packs angewandt. Die Evidenzlage ist aber niedrig. Bei akuten Kreuzschmerzen können Wärmeumschläge eine kurzfristige Schmerzlinderung bewirken. Im klinischen Alltag findet Wärme oft vor Dehnung und Kräftigung verkürzter Muskulatur Anwendung [11] .
Relaxationsverfahren: Für Entspannungsverfahren wie die progressive Muskelrelaxation (PMR) nach Jacobson spricht die NVL bei subakuten und chronischen Kreuzschmerzen eine starke Empfehlung aus. Das dürfte auf andere Schmerzformen übertragbar sein. Auch das autogene Training gehört zu den Entspannungstechniken, die erfolgreich in der Schmerztherapie eingesetzt werden. Speziell hat sich gezeigt, dass diese Methode chronische Schmerzen, Kopfschmerzen und Gliederschmerzen effektiv lindern kann [4] , [11] .
Seit einigen Jahren haben sich Achtsamkeit und Akzeptanz in der Behandlung chronischer Schmerzpatienten als wichtige Aspekte erwiesen. Wer meditiert, nimmt seine Gefühle, Gedanken und die Umgebung wahr – ohne sie zu bewerten oder verändern zu wollen. Dabei tritt ein Zustand tiefer Entspannung ein, der nicht nur die Nerven beruhigen und Stress reduzieren, sondern auch das Schmerzempfinden lindern kann. Zu diesem Thema haben verschiedene Therapieansätze konkrete Beiträge geliefert: Die Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR), die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) und die Mind-Body-Medizin (MBM). Hier stehen die Flexibilität im Umgang mit den Beschwerden und die funktionellen Ziele im Vordergrund [11] , [12] .
Merke: Achtsamkeit und Akzeptanz sind wichtige Aspekte bei der Therapie von chronischen Schmerzpatienten.
Manuelle Therapie: Passive Maßnahmen wie die manuelle Therapie haben einen kurzzeitigen Effekt auf die Schmerzinhibierung. Massage als passive Therapieform hat selten einen langfristigen Nutzen und kann daher nur in besonderen Fällen (z. B. spastische Paresen) empfohlen werden [11] .
Physiotherapie : Besser sieht es bei der aktiven Physiotherapie aus. Zwar ist die Evidenz für eine Wirksamkeit auch hier eher moderat. Das hat aber auch damit zu tun, dass an vielen Studien nicht genügend Probanden teilnahmen und es als primärem Endpunkt nicht nur um Schmerzreduktion, sondern auch um Verbesserung der körperlichen Funktion, der psychosozialen Aktivität und der Lebensqualität ging. Und hier fanden sich häufig Verbesserungen. Der allgemeine Nutzen von Bewegung auf allen Ebenen des biopsychosozialen Modells ist daher ausreichend bewiesen. Ein weiterer Effekt, der in der Therapie berücksichtigt werden kann, ist die bewegungsinduzierte Hypoalgesie [11] , [13] .
Merke: Der allgemeine Nutzen von Bewegung auf allen Ebenen des biopsychosozialen Modells gilt als gesichert.
TENS: Unter den verschiedenen Möglichkeiten der Elektrotherapie ist die transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) die gebräuchlichste [11] . TENS scheint auf Rückenmarkebene für eine Aktivierung der µ‑Opioid-Rezeptoren zu sorgen und bietet für den häuslichen Bereich die Möglichkeit der Eigentherapie. Die Evidenz für die Wirksamkeit ist aber gering.
Musik hat eine starke emotionale Komponente und kann Angst und Stress reduzieren. Da beide die Schmerzwahrnehmung beeinflussen, liegt es nahe, Musiktherapie adjuvant bei chronischen Schmerzen einzusetzen, auch wenn die Evidenzlage bisher niedrig ist.
Das ärztliche Gespräch: Ein wichtiger Therapiebaustein ist last not least auch das ärztliche Gespräch. Chronische Schmerzpatienten profitieren von der Aufklärung über ihre Krankheit und die Möglichkeiten der Beeinflussung [14] . In diesem Zusammenhang sind auch die Placebo- / Noceboeffekte in der Schmerztherapie zu beurteilen. Analgetische Placeboeffekte wurden nachgewiesen z. B. für Patienten mit idiopathischen und neuropathischen Schmerzen, chronischem Rückenschmerz, Migräne und Gonarthrose [11] , [15] . Die Placeboanalgesie beruht nach heutigem Wissensstand auf einem Zusammenspiel zwischen den Erwartungen der Patientinnen und Patienten und der Ausschüttung endogener Opioide. Eine offene Darreichung von Placebos kann wirksam sein und als supportive Therapie helfen, Medikamentendosen zu reduzieren und die Behandlungseffizienz zu verbessern.
Adhärenz
Die Adhärenz beschreibt das Ausmaß, in dem das gemeinsam mit den Behandelnden abgestimmte Vorgehen umgesetzt wird. Sowohl bei medikamentösen als auch bei nichtmedikamentösen Therapieformen ist der Erfolg einer Schmerztherapie weitgehend von der Adhärenz des Patienten abhängig. Die Therapietreue stellt hohe Anforderungen an die Selbstregulationsfähigkeit und kann durch Training gefördert werden [16] . Ein wichtiger Aspekt ist auch das Einhalten der geltenden Therapie- und Leitlinienstandards durch die Behandelnden [17] . Mit folgenden Aspekten kann die Adhärenz der Patienten unterstützt werden [18] :
Information: Für Schmerzpatienten ist die Erklärung ihrer Beschwerden und der Therapiemaßnahmen sehr wichtig [10] . Die Inhalte sollten interaktiv erarbeitet werden, mit Umsetzungsstrategien, Zwischenzielen und einer realistischen Einschätzung, wann mit einem Effekt zu rechnen ist, um ein vorzeitiges Abbrechen der Behandlung zu vermeiden.
Feedback: Über Feedback lässt sich sicherstellen, ob Informationen wie gewünscht verstanden wurden: „Möchten Sie noch etwas zur Therapie wissen?“ oder „Wie klappt es mit der Umsetzung?“
Unterstützung: Es kann daher sinnvoll sein, zur Förderung der Therapietreue webbasierte Applikationen oder digitale Gesundheitsanwendungen zu empfehlen bzw. zu verordnen.
Besondere Patientengruppen
Medikamentöse und nichtmedikamentöse Schmerztherapie sind nur dann ausreichend wirksam und nebenwirkungsarm, wenn die Besonderheiten und Eigenheiten der zu behandelnden Patienten in die therapeutischen Überlegungen mit einbezogen werden.
Patienten mit gestörter Nieren- oder Leberfunktion
Bei Nieren- und Lebererkrankungen kann es dazu kommen, dass das Analgetikum oder Metabolite akkumulieren. Das wiederum kann zu verstärkten Nebenwirkungen führen oder Niere und Leber zusätzlich schädigen. Traditionelle NSAR und Coxibe sind bei Niereninsuffizienz (Kreatinin-Clearance < 30 ml/min) kontraindiziert [19] (siehe Übersicht Tab. 4). Generell sollten NSAR so kurz wie möglich und in der niedrigsten wirksamen Dosis angewendet werden.
Mangelnde Hydrierung, eine zusätzliche Herz- oder Leberinsuffizienz sowie Medikation mit ACE-Hemmern, AT-II-Blockern oder Diuretika erhöhen das Risiko. Paracetamol ist potenziell lebertoxisch.
Opioide sind nicht organtoxisch. Sie werden vorwiegend über CYP450 metabolisiert, die Metaboliten renal ausgeschieden. Sie werden in den wirksamen Bereich titriert. Bei Patienten mit vorbestehenden Beeinträchtigungen der Nieren- oder Leberfunktion sollte besonders vorsichtig titriert werden („start low, go slow“), bei Nieren- oder Leberinsuffizienz kann auch eine Dosisreduktion notwendig werden (siehe auch auf dosing.de).
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Merke: „Start low, go slow” lautet die Devise beim Titrieren von Opioiden.
Schwangerschaft und Stillzeit
Fast alle Schmerzmedikamente passieren die Plazenta. Medikamentengabe an Schwangere sollte vermieden werden bzw. nur nach strenger Indikationsstellung erfolgen. Zu den häufigsten Schmerzzuständen, die weiterbehandelt werden müssen, gehören Rückenschmerzen, Migräne, rheumatoide Arthritis und Neuralgien. Der Einsatz nichtmedikamentöser Maßnahmen hat oberste Priorität und Therapieziel muss nicht die Schmerzfreiheit sein.
In der Schwangerschaft werden folgende schmerztherapeutisch relevante Medikamente, bei entsprechender Indikationsstellung, bevorzugt: Paracetamol, Ibuprofen (Cave: letztes Trimenon), trizyklische Antidepressiva, Buprenorphin und Gabapentin. Die Produktion der Muttermilch findet größtenteils in zeitlicher Nähe zum Stillen statt. Die Deutsche Schmerzgesellschaft empfiehlt daher, Medikamente direkt nach dem Stillen oder abends einzunehmen. Retardformulierungen sind zu vermeiden [20] (siehe auch auf www.embryotox.de).
Hohes Alter
Die WHO definiert Menschen über 60 Jahren als ältere, über 75 Jahren als alte und über 90 Jahren als sehr alte Menschen. Nicht adäquat behandelte Schmerzen haben einen enormen Einfluss auf deren Lebensqualität. Die wichtigsten pharmakologischen Fakten zur medikamentösen Schmerztherapie im Alter [21] :
Die Resorption oraler Medikamente ist weitgehend unbeeinträchtigt.
Normaldosis bedeutet häufig Überdosierung, daher niedrig dosiert starten und langsam steigern.
Der Serumspiegel der Medikamente mit hoher Proteinbindung ist vom – im Alter reduzierten – Albumingehalt abhängig.
Verteilungsvolumina ändern sich: Fettfreie Körpermasse nimmt ab, Körperfett zu.
Reduzierte Aktivität z. B. von Cytochrom P450 reduziert den Metabolismus vieler Substanzen.
Glomeruläre Filtrationsrate nimmt ab 40 Jahren um ca. 1 ml / min / 1,73 qm pro Jahr ab.
Durchblutung der Leber und die hepatische Clearance sind reduziert.
Polypharmazie ist häufiger und führt zu unüberschaubaren Wechselwirkungen.
Anticholinerge Nebenwirkungen der Schmerzmedikamente erhöhen das Sturzrisiko und können das Demenzrisiko steigern.
Die Einbeziehung von Familienmitgliedern oder Pflegepersonen kann je nach mentalem Status erforderlich sein. Wo möglich sollte nichtmedikamentösen Verfahren der Vorzug gegeben werden, wo das nicht möglich ist, sollten bewährte Substanzen mit möglichst geringen anticholinergen Nebenwirkungen und geringem Wechselwirkungsprofil eingesetzt werden [22] .
Merke: Im Alter sind Pharmakokinetik und Pharmakodynamik deutlich verändert.
Psychische Komorbiditäten
Psychosoziale Faktoren tragen einen erheblichen Anteil zur Schmerzchronifizierung bei. Die psychologische Diagnostik und psychotherapeutische Behandlung sollten daher integrale Bestandteile des multimodalen Schmerzkonzepts sein. Die Therapie chronischer Schmerzen setzt immer eine aktive Beteiligung des Patienten voraus. Man sollte den Patienten daher erklären, dass psychologische Unterstützung hilfreich sein kann, ohne dabei den Schmerzen eine rein psychologische Ursache zu unterstellen. Bei Nichtansprechen muss ggf. nach einem sekundären Krankheitsgewinn (Rente) gesucht werden.
Opioide in der Langzeittherapie
Wenn ein Opioid über einen Zeitraum von 4–12 Wochen Schmerzen oder das körperliche Beeinträchtigungserleben deutlich vermindert hat, kommt eine längere Anwendung infrage. Dazu gibt die Leitlinie LONTS (Langzeitanwendung von Opioiden bei chronischen nicht-tumorbedingten Schmerzen) u. a. folgende Hinweise [10] :
Mit dem Patienten realistisches Therapieziel vereinbaren (z. B. Reduktion um 3 Punkte auf der NRS).
keine Monotherapie, sondern multimodales Gesamtkonzept
prophylaktische Behandlung von Nebenwirkungen (Emesis, Obstipation)
Präparate mit langer Wirkdauer einsetzen, Einnahme nach festem Zeitplan
mit niedriger Dosis beginnen, langsam steigern
Therapiekontrolle mindestens 1-mal pro Quartal
Schrittweise Beendigung, wenn Therapieziele nicht mehr erreicht werden oder unerwünschte Arzneimittelwirkungen nicht mehr tolerabel sind.
Auch bei gutem Ansprechen sollte nach spätestens 6 Monaten ein Reduktions- und ggf. ein Auslassversuch erfolgen.
Medikamentenabusus
In einer Analyse zum Analgetikagebrauch zwischen 2008 und 2019 war der Gebrauch von verschreibungspflichtigen Analgetika angestiegen, während der Gebrauch von rezeptfreien Analgetika gesunken ist [23] . Etwa 1,6 Millionen der 18-64-Jährigen in Deutschland weisen eine manifeste Abhängigkeit von Medikamenten auf [24] . Eine ähnlich große Zahl wird von Experten als mittel- bis hochgradig gefährdet eingestuft. Patienten, die bereits ein Abhängigkeitsproblem entwickelt haben, suchen häufig mehrere Ärzte parallel auf und haben Strategien entwickelt, ihre Verschreibungswünsche wirksam vorzubringen. Darüber hinaus greifen sie häufig auf frei verkäufliche Medikamente zurück.
Gerade bei eher unspezifischen Beschwerden bedarf es einer sorgfältigen Diagnostik, insbesondere auch um abzuklären, ob eine psychische Störung vorliegt, bevor eine medikamentöse Behandlung eingeleitet wird. Hausärzte haben die Möglichkeit, durch wiederkehrende Kontakte den Lebenskontext solcher Patienten kennenzulernen und die Beschwerden vor diesem Hintergrund zu bewerten. Bei der Verordnung von Medikamenten mit Suchtpotenzial sollten Sie Ihre Verschreibungen besonders genau kontrollieren (siehe Kasten). Bei Medikamenten, die neu auf den Markt kommen, ist Skepsis geboten. In der Regel ist das Suchtpotenzial neuer Medikamente anfangs nur schwer abschätzbar [25] .
Merke: Hausärzte kennen ihre Patienten und haben die Möglichkeit, Beschwerden vor dem psychosozialen Hintergrund zu bewerten
Kontrolle des eigenen Verschreibungsverhaltens
Der Leitfaden der Bundesärztekammer gibt Empfehlungen für das interne Qualitätsmanagement zum Verordnungsverhalten [26]:
Achten Sie auf Wiederholungsrezepte, Doppelverordnungen und Mengen v. a. bei Medikamenten mit Suchtpotenzial.
Sensibilisieren Sie das Praxisteam wegen Folgeverordnungen. Hinterlegen Sie an der Rezeption eine Liste mit problematischen Arzneimitteln.
Nutzen Sie die Auswerte-Statistiken der Praxis-IT mindestens einmal im Quartal.
Sogenannte „Expertensysteme“ in der IT können Warnhinweise bei bestimmten Medikamenten geben. Sie können zudem für Therapiekombinationen auf mögliche Wechselwirkungen aufmerksam machen.
Bitten Sie die Apotheker in der Nähe um Rückmeldung bei Auffälligkeiten.
Risikokonstellationen
Menschen mit gesundheitsschädlichem Medikamentengebrauch oder -abhängigkeit sind in allen Altersstufen und sozialen Schichten vorzufinden. Frauen ab dem 40. Lebensjahr sind jedoch überdurchschnittlich häufig betroffen. Patienten mit eher diffusen und häufig chronischen Beschwerden machen den größten Anteil aus, dazu gehören Überforderungs- und Überlastungsgefühle, Schlafstörungen, ständige Müdigkeit und Erschöpfung, Unruhe und Nervosität, Konzentrationsstörungen, Ängste und sorgenvolles Grübeln bis hin zu Depressionen (Abb. 4). Die Verordnung von Medikamenten kommt dem Bedürfnis, eine „richtige Krankheit“ zu haben, entgegen und hilft, der Reflexion über möglicherweise zugrunde liegende Lebensbedingungen und -gewohnheiten auszuweichen [26] .
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Medikamente mit Missbrauchs- und Abhängigkeitspotenzial
Beim Medikamentenabusus haben wir es v. a. mit Schmerzmitteln zu tun (psychotrope Komponente) sowie mit Medikamenten, die primär für die Behandlung von Schlafstörungen und psychischen Störungen eingesetzt werden. Prädisponiert für einen Analgetika-Abusus sind Patienten, die ursprünglich an Migräne und / oder Spannungskopfschmerz litten. Bei häufiger Einnahme von Analgetika, mehr als der Hälfte aller Tage eines Monats, kann es zu einem medikamenteninduzierten Dauerkopfschmerz kommen, manchmal schon nach wenigen Wochen, meistens aber erst nach Jahren.
Alle Medikamente zur Behandlung von Migräne und Kopfschmerzen können einen medikamenteninduzierten Kopfschmerz hervorrufen [27] . Besonders problematisch sind analgetische Mischpräparate, die zusätzlich Kombinationspartner mit Wirkung auf das ZNS (Koffein, Codein) enthalten. Neben dem Dauerkopfschmerz können Analgetika, insbesondere Mischanalgetika, eine Fülle von Nebenwirkungen im Bereich des Gastrointestinaltrakts, des hämatopoetischen Systems sowie der Nieren und ableitenden Harnwege hervorrufen, die sich oft erst nach Jahren manifestieren.
Die andere Medikamentengruppe mit Missbrauchs- und Abhängigkeitspotenzial sind Sedativa und Hypnotika. Benzodiazepine wirken anxiolytisch, muskelrelaxierend, antikonvulsiv und amnestisch und werden bei Angsterkrankungen, Erregungszuständen, Schlafstörungen u. ä. eingesetzt. Sie werden auch als sog. „Tranquilizer“ zur Behandlung unspezifischer oder nicht genauer abgeklärter Beschwerden verwendet. Die Einnahme mildert zunächst den subjektiven Leidensdruck des Patienten, die zugrunde liegenden Probleme aber chronifizieren. Durch unkritisches Verordnungsverhalten und unzureichende Aufklärung des Patienten entsteht leicht ein Dauerkonsum.
Der regelmäßige Gebrauch von Benzodiazepinen führt nicht selten zu Gewöhnung und Abhängigkeit. Bei den meisten Langzeitkonsumenten kommt es allerdings nicht zur Dosissteigerung, es bleibt bei einer Niedrigdosisabhängigkeit. Hier wird die Diagnose einer Abhängigkeit oft erst deutlich durch das Auftreten einer Entzugssymptomatik nach abruptem Absetzen. Bei Dauer- und Übergebrauch von Benzodiazepinen kann es zu einer typischen Kombination von Nebenwirkungen kommen:
Einschränkung von Gedächtnis- und Merkfähigkeit
Muskelschwäche und Koordinationsstörungen (mit daraus folgendem Sturz- und Unfallrisiko)
Gefühlsverflachung
Merke: Bei den meisten Langzeitkonsumenten kommt es zu einer Niedrigdosisabhängigkeit.
Benzodiazepine werden inzwischen häufig durch Analoga mit Wirkstoffen wie Zolpidem, Zopiclon und Zaleplon ersetzt. Ging man früher von einem geringeren Abhängigkeitsrisiko aus, hat die WHO Zolpidem bezüglich des Missbrauchs- und Abhängigkeitsrisikos bereits den Benzodiazepinen gleichgestellt.
Diagnose eines schädlichen Medikamentengebrauchs
Sobald Sie aufgrund der vorgetragenen Beschwerdebilder und Verschreibungswünsche problematischen Medikamentenkonsum vermuten, sollten Sie das in einer konstruktiven Weise ansprechen. Bewährte Einstiegsfragen bei einem Verdacht auf schädlichen Gebrauch von Medikamenten sind:
Bei welchen Beschwerden oder Störungen neigen Sie dazu, diese mit Medikamenten zu behandeln?
Nehmen Sie hin und wieder zur Verbesserung Ihres allgemeinen Befindens oder Ihrer Stimmung Medikamente ein?
Haben Sie schon mal die Erfahrung gemacht, dass diese Beschwerden wieder schlimmer geworden sind, sobald Sie die Medikamente weggelassen haben?
Merke: Hinweise auf einen problematischen Medikamentenkonsum müssen aktiv angesprochen werden.
Die Klassifikationen unterscheidet schädlichen Gebrauch von Sedativa / Hypnotika (ICD-10: F1x.1) und das Abhängigkeitssyndrom (ICD-10: F1x.2). Ein Abhängigkeitssyndrom liegt nach ICD 10 dann vor, wenn in einem Zeitraum von 12 Monaten drei oder mehr der folgenden Kriterien erfüllt sind:
Es besteht ein starker Wunsch bzw. Zwang, die psychotrope Substanz zu konsumieren.
Es besteht eine verminderte Kontrollfähigkeit im Umgang mit der Substanz.
Beim Absetzen der Substanz tritt ein körperliches Entzugssyndrom auf.
Es hat eine Toleranzentwicklung stattgefunden.
Soziale und berufliche Aktivitäten werden anhaltend vernachlässigt.
Der Substanzgebrauch wird trotz eindeutiger Schädigung fortgesetzt, worüber sich der Konsument im Klaren ist.
Die typische Trias aus affektiver Indifferenz, kognitiv-mnestischen Defiziten und körperlicher Schwäche tritt auch bei einem Konsum im Niedrigdosisbereich auf. Mit wachsender Lebenszeitdosis steigt das Ausmaß der Folgeerscheinungen. Bei Benzodiazepinen besteht insofern ein Sonderfall, als sich hier bereits bei Dosierungen im therapeutischen Bereich eine schwere körperliche Abhängigkeit entwickeln kann. Die Niedrigdosisabhängigkeit ist dadurch gekennzeichnet, dass keine Dosissteigerung erfolgt. Damit lassen sich die Kriterien der Abhängigkeit nach ICD 10 nur bedingt anwenden. Erst bei einem Absetzversuch treten Entzugssymptome auf, die letztlich eine Abhängigkeitsdiagnose ermöglichen.
Für die Praxis heißt das: Erst wenn Sie und Ihr Patient Klarheit darüber gewonnen haben, dass ein problematischer Medikamentenkonsum vorliegt und wenn Ihr Patient bereits weitgehend entschlossen ist, daran etwas ändern zu wollen, kann eine exakte Medikamentenanamnese erhoben werden (siehe Kasten).
Anamnesebogen zum Medikamentenkonsum [26]
Folgende Punkte sollten mit einem Medikamentenfragebogen erfasst werden:
Medikamentenname / Wirkstoff
Was ist die mit der Einnahme angestrebte Wirkung?
Wie hoch ist die eingenommene tägliche bzw. wöchentliche Dosis?
Wird das Medikament regelmäßig oder unregelmäßig eingenommen?
Seit wann wird das Medikament eingenommen?
Durch wen wurde das Medikament verordnet? Ist es ein verordnungsfreies Medikament?
Vermeidungsstrategien
Bei vielen Patienten besteht zunächst die Auffassung, die Medikamenteneinnahme sei notwendig und eine scheinbar unverzichtbare Lebenshilfe, da sie den Betroffenen wieder „funktionieren“ lässt. Daher kann die Motivation des Patienten, sein Verhalten zu ändern, anfänglich gering sein.
Jedoch zeigt das Ansprechen des Problems durch den Arzt und der klare Hinweis auf die gesundheitlichen Folgen des Verhaltens bei vielen Patienten eine nachweisliche Wirkung. Wenn deutlich ist, dass der Medikamentenkonsum möglicherweise schon zu Auswirkungen (Depression, Kopfschmerzen) geführt hat, kann die Benennung des Zusammenhangs ein Anlass für eine Veränderung sein.
Dabei ist es sinnvoll festzustellen, wie weit sich der Patient hinsichtlich seiner Motivation zu einer Verhaltensänderung befindet. Das „Transtheoretische Modell“ nach Prochaska und DiClemente [28] beschreibt die verschiedenen Stadien der Entwicklung von Problembewusstsein und Änderungsbereitschaft (Abb. 5). Je nach Stadium richten sich die weiteren Interventionen und konkreten Hilfestellungen. Sie sollten versuchen, das jeweils aktuelle motivationale Stadium zu identifizieren und den Patienten zum Schritt in das nächste Stadium zu motivieren.
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Entwöhnung
Die Indikation zum Entzug sollte sorgfältig mit dem Patienten gemeinsam gestellt werden. Gründe für einen Entzug sind verlorene Wirksamkeit oder negative Folgeerscheinungen (Angst- und Schlafstörungen, medikamenteninduzierter Kopfschmerz, Koordinationsstörungen). Der Zeitpunkt für einen Entzug ist erst dann gekommen, wenn der Patient von dessen Notwendigkeit überzeugt ist.
Bereits nach einer wenige Wochen dauernden Benzodiazepin-Einnahme in therapeutischer Dosierung können Entzugserscheinungen in Form von Schlafstörungen und Unruhezuständen auftreten, die als fortbestehende Störung interpretiert werden. Patienten müssen über solche Rebound-Phänomene frühzeitig aufgeklärt werden. Durch ein stufenweises Absetzen des Medikaments kann das Phänomen fast vollständig verhindert werden.
Schwieriger ist der Entzug nach einer jahre- oder jahrzehntelangen Medikamentenabhängigkeit. Er kann ambulant durchgeführt werden, wenn die tägliche Einnahme nicht mehr als das Doppelte der üblichen Tagesdosis des Medikaments betragen hat. Die Dosis wird dann über Wochen bis Monate reduziert, anfangs in größeren, später in kleineren Schritten. Bei starken Symptomen sollten die Reduzierungsschritte während des Ausschleichens entsprechend modifiziert werden. Als optimal wird oft eine Entzugsdauer von 6 bis 10 Wochen genannt, bei langjährig Abhängigen kann der Entzug aber auch sehr viel länger dauern. Solange abdosiert wird, können immer wieder Entzugserscheinungen auftreten. Patienten mit einer Hochdosisabhängigkeit sowie Patienten mit einer kombinierten Abhängigkeit von Benzodiazepinen und Alkohol sollten stationär in einer spezialisierten Einrichtung entzogen werden. Idealerweise wählen Sie von vornherein Medikamente, die nicht in die Abhängigkeit führen.
Merke: Bei starken Symptomen sollten die Reduzierungsschritte während des Ausschleichens modifiziert werden.
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