Berlin. Patienten mit Diabetes haben ein erhöhtes Risiko, einen Herzinfarkt oder andere Komplikationen zu erleiden. In der täglichen Praxis sind verschiedene Therapie- und Präventionsoptionen des Diabetes Typ 2 vorhanden ohne die eindeutig beste Lösung.
Um mit dem Patienten die für ihn individuell richtige Entscheidung gemeinsam treffen zu können, muss der Hausarzt optimal unterstützt und der Patient gut informiert werden. Denn die Behandlung von Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 gehört – anders als die des Typ 1 Diabetes – in die Hausarztpraxis.
Die Arbeitsgruppe Gesundheitswissenschaften der Universität Hamburg hat dazu ein ISDM-Beratungs- und Schulungsprogramm zur Herzinfarktprävention bei Diabetes mellitus Typ 2 für die ärztliche Praxis entwickelt. ISDM steht für informed shared decision making.
“Ziel unseres Konzeptes der geteilten Entscheidungsfindung ist es, die Patienten zu motivieren, sich an der medizinischen Entscheidung zu beteiligen, um selbst evidenz-basierte Entscheidungen treffen zu können. Für die geteilte Entscheidungsfindung sollen die Patienten umfassend informiert sein, ihre eigenen Therapieziele festlegen und diese priorisieren. Die Qualität der Entscheidungen soll dadurch verbessert werden”, führt Dr. phil. Susanne Buhse, Universität Hamburg, beim 2. arriba-Symposium in Berlin aus.
Das ISDM-Beratungs- und Schulungsprogramm beinhaltet:
- eine Entscheidungshilfe zur Herzinfarktprävention bei Typ 2 Diabetes,
- ein Gruppenberatungsmodul, das sicherstellt, dass die Patienten Inhalte und Struktur der Entscheidungshilfe verstehen,
- ein anschießendes Arzt-Patienten-Gespräch,
- einen strukturierten Leitfaden für den Hausarzt, um das Arzt-Patienten-Gespräch nach ISDM-Kriterien führen zu können sowie
- ein Schulungsprogramm für Diabetesberaterinnen und Medizinische Fachangestellte (MFA), die das Gruppenberatungsmodul anbieten.
Entscheidungshilfe als Broschüre
Die Entscheidungshilfe erhalten Patienten, die bereits ins DMP-Programm eingeschrieben sind, vorab in praktischer Broschürenform. Sie soll Wissen vermitteln und informiert zum Beispiel umfassend zum Herzinfarktrisiko und über Maßnahmen zur Vorbeugung. Mit der Broschüre zur Entscheidungshilfe soll der Patient die Vorschläge des Arztes besser verstehen und über die Vor- und Nachteile der Maßnahmen gut informiert werden.
Das erworbene Wissen soll den Abwägungsprozess von Nutzen und Schaden einer Therapie unterstützen und die Entscheidungskonflikte reduzieren. “Letztlich erhöht das die Zufriedenheit des Patienten mit der Entscheidung”, betont Buhse.
“Wir haben während unserer kontrollierten Studie in der Kontrollgruppe festgestellt, dass die Ziele von Arzt und Patient oft nicht übereinstimmen. Entscheidungshilfe alleine reicht nicht aus. Damit kann man nicht sicherstellen, dass die Patienten verstanden haben, was in der Broschüre steht. Deshalb haben wir um ein Schulungsmodul und die strukturierte Beratung ergänzt. Auf diese Weise lässt es sich gut in das bestehende DMP-System integrieren”, erklärt Buhse.
Evaluierung in zwei Studien
In zwei randomisiert kontrollierten Studien (RCT) wurde das ISDM-Programm evaluiert. In der Poliklinik für Endokrinologie und Stoffwechselerkrankungen des Universitätsklinikums Jena zum einen zur Exploration der Wirksamkeit. Zum anderen cluster-randomisiert (cRCT) zur Exploration der Wirksamkeit unter Implementierungsbedingungen in 22 Hausarztpraxen mit 279 Patienten in Thüringen, Sachsen-Anhalt und Hamburg.
Ziel war es herauszufinden, ob die Schulung der Behandlungsgruppe (Herzinfarktvorbeugung bei Diabetes) verglichen mit einer Schulung über Ernährung, Bewegung und Stress (Kontrollgruppe) sich unterschiedlich beim Verstehen von Nutzen und Schaden der Maßnahmen zur Herzinfarktvorbeugung und beim Erreichen der Therapieziele auswirken. In der Zeit von März 2013 bis März 2015 haben jeweils 77 Patienten pro Gruppe teilgenommen.
Nach der Schulung haben alle Teilnehmer ihre Therapieziele festgelegt. Nach sechs Monaten wurde untersucht, ob sie ihre Ziele erreicht haben. In der Behandlungsgruppe war das Erreichen des Blutdruckziels für die meisten Patienten am wichtigsten, in der Kontrollgruppe das Erreichen des Blutzuckerziels (HbA1c-Wert).
Es hat sich gezeigt, dass nach sechs Monaten mehr Teilnehmer in der Behandlungsgruppe ihren selbst festgelegten HbA1c-Wert erreichten. Dies war bei 68 von 71 Patienten der Fall. In der Kontrollgruppe waren es 60 von 70. Weitere Ziele wie Blutdruck, Statineinnahme, Rauchen und das für die Patienten persönlich wichtigste Ziel haben beide Gruppen gleich gut erreicht, führt Buhse aus.
Besseres Verständnis für Therapie
Bei der Auswertung habe sich gezeigt, dass Patienten, die an der Schulung zur gemeinsamen Entscheidungsfindung teilgenommen haben, ein besseres Verständnis zum Thema Herzinfarktvorbeugung, eigenes Herzinfarktrisiko sowie Nutzen und Schaden der Vorbeugemaßnahmen hatten. In der Behandlungsgruppe konnten durchschnittlich acht von zwölf Fragen richtig beantwortet werden, in der Kontrollgruppe nur drei von zwölf.
Die Ergebnisse der RCT-Studie konnten in der cluster RCT-Studie mit Hausarztpraxen bestätigt werden. “Die Studien konnten zeigen, dass das ISDM-Programm geeignet ist, Patienten umfassend und verständlich zur Herzinfarktvorbeugung zu informieren, damit sie informierte und geteilte Entscheidungen zu eigenen Therapiezielen auf Basis gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse und ihrer eigenen Therapiepräferenzen treffen konnten. Die Umsetzung in den Hausarztpraxen hat gut funktioniert”, fasst Buhse zusammen.
Für Prof. Dr. med. Ingrid Mühlhauser, Universität Hamburg, hat die Evaluierung zu zwei aus ihrer Sicht sehr erstaunlichen Ergebnissen geführt. “In der Kontrollgruppe werden keine informierten Entscheidungen getroffen. In der Behandlungsgruppe haben die Ärzte die Therapieziele viel rationaler priorisiert, weil die Patienten im Arzt-Patienten-Gespräch vorab sinnvoller priorisiert hatten”.
Der nächste Schritt sei nun die Zertifizierung, damit eine Kostenübernahme durch die Gesetzlichen Krankenkassen erfolgen könne.
Studie “Diabetes und Herz”
Im Rahmen der Studie “Diabetes und Herz” haben Gesundheitswissenschaftler der Universität Hamburg eine evidenz-basierte Patienteninformation (EbPI) und eine ISDM-Schulung für Menschen mit Typ 2 Diabetes erarbeitet. Das Projekt wurde aufgrund der Empfehlung der Nationalen Versorgungsleitlinie zur Strategie der gemeinsamen Entscheidungsfindung entwickelt. Die wissenschaftliche Abteilung der AOK und die Europäische Diabetes Gesellschaft (European Foundation for the Study of Diabetes – EFSD) haben es gefördert. Komponenten des Projekts:
- 1. Entscheidungshilfe – Broschüre für Patienten
- 2. Patienten-Gruppenschulung
- 3. strukturiertes Arzt-Patienten-Gespräch
- 4. verbindliche Zielvereinbarung zwischen Arzt und Patient
- 5. Train-the-Trainer-Modul
Weiterführende Informationen: www.diabetes-und-herzinfarkt.de
Quellen: Interview Dr. Buhse; Vortrag “Entscheidungshilfe zum Diabetes Mellitus Typ 2” beim 2. Arriba Symposium, Berlin, 2.3.2018