Berlin. Die Corona-Impfung von älteren Kindern und Jugendlichen wird zum Streitpunkt zwischen Hausärzten und Wissenschaftlern einerseits und der Politik andererseits: Nur wenige Stunden, nachdem Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) am Mittwoch (26. Mai) ein mögliches Impfangebot auch gegen eine STIKO-Empfehlung skizzierte, hat die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) ein Positionspapier veröffentlicht, in dem sie sich aufgrund der bislang dünnen Studienlage gegen eine generelle Impfung ausspricht (s. Kasten unten).
„Gesunde Kinder und Jugendliche haben nach bisher vorliegenden Studiendaten ein minimales Risiko für schwere Verläufe durch Erkrankungen mit SASR-COV2. Selbst bei Vorerkrankungen ist das Risiko extrem niedrig“, heißt es darin. Zum Nutzen einer Impfung hingegen gebe es bisher keine validen Daten. “Dagegen sind die schweren Impf-Nebenwirkungen wesentlich häufiger als bei Erwachsenen.”
Auch einzelne Mitglieder der Ständigen Impfkommission (STIKO) deuteten an, aufgrund der dünnen Studienlage zum jetzigen Zeitpunkt keine uneingeschränkte Empfehlung aussprechen zu können – auch wenn die EMA am Freitag positiv über die Zulassung entscheide. Für den Deutschen Hausärzteverband ist beides, sowohl die Zulassung durch die EMA als auch die Empfehlung durch die STIKO, „Voraussetzung“ für die Impfungen, die als wichtiger Baustein zurück in die Normalität gerade von Kindern und Jugendlichen gelten.
Wie “Der Hausarzt” erfuhr, könnte die in den kommenden Wochen erwartete STIKO-Empfehlung statt einer generellen Impfempfehlung für Kinder und Jugendliche beispielsweise eine begrenzte Empfehlung für Zwölf- bis 15-Jährige mit bestimmten chronischen Erkrankungen geben. Auch die DEGAM sieht Impfungen von Kindern und Jugendlichen “allenfalls bei schweren Vorerkrankungen im Rahmen von kontrollierten Studien”.
Erst EMA, dann STIKO am Zug
Zum Hintergrund: Der deutsche Hersteller Biontech und sein US-Partner Pfizer hatten die Erweiterung der Zulassung des Impfstoffs als erste Firmen auch für Zwölf- bis 15-Jährige beantragt. In den USA und Kanada darf das Mittel bereits bei Kindern angewendet werden, in der EU bislang ab 16 Jahren. Am Freitag (28. Mai) will die EU-Arzneimittelbehörde EMA über die Zulassung für Jüngere entscheiden.
Erst danach wird die STIKO ihre Empfehlung zur Impfung bei jungen Menschen abgeben.
Bislang zeichnet sich eine Haltung ähnlich jener der DEGAM ab. Momentan wisse man kaum etwas über die Nebenwirkungen von Corona-Impfungen bei Kindern, erklärte STIKO-Mitglied Prof. Rüdiger von Kries bereits am Dienstag (25. Mai) in der Sendung “RBB-Spezial”. “Bei unklarem Risiko kann ich zur Zeit noch nicht vorhersehen, dass es eine Impfempfehlung für eine generelle Impfung geben wird.”
Auch der STIKO reicht die Datenlage für eine Empfehlung nicht aus. Die vorliegenden Zahlen seien “deutlich zu gering, um seltene Komplikationen nach der Impfung vorhersagen zu können”, so STIKO-Mitglied Dr. Martin Terhardt, Kinder- und Jugendarzt in Berlin. Deshalb warte das ehrenamtliche Gremium auf mehr Daten aus den USA und Kanada.
Impfung auch ohne STIKO-Rückendeckung?
Doch was passiert, wenn die STIKO keine Empfehlung aussprechen wird oder diese – was informierten Kreisen zufolge am wahrscheinlichsten gilt – nur auf bestimmte Junge, etwa mit chronischen Vorerkrankungen, begrenzt wird? In der Regel richtet sich die Politik nach den Empfehlungen des Gremiums; auch die Haftungsfrage für Ärztinnen und Ärzte richtet sich in der Regel nach der Orientierung an den bestehenden STIKO-Empfehlungen.
Bei der Corona-Impfung jedoch könnte dies anders aussehen.
Denn: Bundesgesundheitsminister Spahn will Kinder und Jugendliche bei entsprechender EMA-Empfehlung auch ohne allgemeine Impfempfehlung der STIKO in die Impfkampagne einbinden. Die STIKO gebe nur eine Empfehlung, sagte Spahn am Mittwoch (26. Mai). “Im Lichte dieser Empfehlung können dann die Eltern mit ihren Kindern, den Ärztinnen und Ärzten die konkreten Entscheidungen treffen, ob jemand geimpft wird oder nicht.” Doch gerade hier wird eine bedeutende Folge im Praxisalltag deutlich (s. unten).
Am Donnerstag (27. Mai) werden sich Bund und Länder zum nächsten Impfgipfel treffen. Schon zuvor hatten die Gesundheitsminister von Bund und Ländern angestrebt, Kindern und Jugendlichen ab zwölf Jahren bis Ende August ein Impfangebot zu machen und diese über die Sommerferien vorzubereiten. Einzelne Landesregierungen arbeiten eigenen Angaben zufolge an den Plänen für solche neuen “Massenimpfungen”. Berlins Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) etwa hatte schon am Montag (24. Mai) gesagt, sie rechne für Mitte Juni mit dem Impfbeginn bei Kindern und Jugendlichen in der Hauptstadt.
Die genaue Umsetzung soll am Donnerstag Thema sein, also noch vor den entsprechenden Aussagen von EMA und STIKO. Zu klären ist etwa auch die konkrete Organisation von Impfungen für Jugendliche beispielsweise über Schulen oder Arztpraxen sowie zusätzlicher Impfstoff dafür (s. Knackpunkt 2).
Knackpunkt 1: Entscheidung auf Hausärztinnen und Hausärzte abgewälzt?
Die Entscheidung für oder gegen eine Impfung von Kindern und Jugendlichen “könnten Eltern gemeinsam mit Ärzten treffen” – so skizzieren es Spahn und Ministeriumssprecher am Mittwoch (26. Mai) unisono. Das Angebot zur Impfung solle zudem unabhängig von einer Empfehlung der STIKO erfolgen. Die individuelle Entscheidung läge damit jedoch einmal mehr in den Hausarztpraxen, die bereits heute am Limit arbeiten, erinnert der Deutsche Hausärzteverband.
„Sollte die STIKO den Impfstoff für Jüngere nur eingeschränkt oder gar nicht empfehlen, könnte dies zu erneuter Verunsicherung führen – so, wie wir es in der Debatte um den Impfstoff von Astrazeneca erlebt haben“, sieht auch Dr. Dominik von Stillfried, Chef des Zentralinstituts für die Kassenärztliche Versorgung (Zi).
Erfahrungsgemäß würde gerade das Gespräch mit besorgten Eltern Zeit kosten. Diese Erfahrungswerte von Haus- und Kinderärzten werden in die Gespräche zur genauen Umsetzung zumindest bislang jedoch nicht ausreichend einbezogen.
Für die im Einzelfall nach sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung vorgenommene Impfentscheidung bei besonders gefährdet scheinenden Kindern und Jugendlichen greift übrigens schon jetzt das deutsche Arzneimittelrecht über den sogenannten “Off-Label-Use”, erinnert die DEGAM in ihrer Stellungnahme.
Wichtig: Die Rückkehr der Kinder und Jugendlichen in ein kindgerechtes Leben mit Schule, mit Freunden, mit Freizeitaktivitäten sollte derzeit eines der wichtigsten Ziele sein, betont in diesen Tagen Ulrich Weigeldt, Bundesvorsitzender des Deutschen Hausärzteverbands. Bundesfamilienministerin Christine Lambrecht (SPD) hat dazu bekräftigt, dass es auch für Kinder und Jugendliche keine Pflicht geben werde, sich gegen Covid-19 impfen zu lassen. Die Teilnahme am regulären Schulunterricht dürfe nicht davon abhängig gemacht werden, ob eine Schülerin oder ein Schüler geimpft sei.
Knackpunkt 2: Kommen die Liefermengen “on top”?
Noch viel entscheidender aber ist womöglich die Frage, ob die Liefermengen für Schülerinnen und Schüler “on top” gerechnet werden. Spahn hatte jüngst dafür plädiert, Impfstoffe entsprechend zurückzuhalten.
“Wie wir erfahren haben, müssen die Praxen aus ihrem Kontingent nicht nur die Impfdosen für Kinder und Jugendliche sicherstellen, sondern auch die Impfungen durch Betriebsärzte und Privatärzte”, kritisierte am Mittwoch (26. Mai) scharf der Chef der KV Hamburg, Walter Plassmann. Damit komme das Erstimpfen mit mRNA-Wirkstoffen in den Praxen für die nächsten Wochen zum Erliegen, erste Ärzte in der Hansestadt meldeten bereits, “noch nicht einmal Impfstoff für die Zweitimpfung” zu erhalten.
In der Tat sind die Liefermengen für Erstimpfungen mit Biontech/Pfizer aktuell knapp.
Mit 57 Prozent liegt der Anteil der Corona-Zweitimpfungen an den täglich verabreichten Dosen aktuell so hoch wie noch nie. Nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) vom Mittwoch (Stand: 12.50 Uhr) wurden am Dienstag 595.125 Menschen immunisiert, 339.751 davon bekamen nun ihren vollen Impfschutz. Zeitgleich liegt die Zahl der insgesamt verabreichten Impfungen im Vergleich zur Vorwoche erneut deutlich niedriger: 867.044 Impfungen waren es zum damaligen Zeitpunkt.
Für jüngere Menschen die Bionech/Pfizer-Vakzine zurückzuhalten, werfe die Impfkampagne insgesamt rechnerisch um zwei Wochen zurück, rechnete auch Zi-Chef von Stillfried.