Der geplante und überwachte Prozess, bei dem Arzneimittel, die potenziell unangemessen, schädlich, nicht mehr indiziert oder ohne Nutzen für die aktuelle Therapie sind, schrittweise reduziert und sicher abgesetzt werden, wird auch als Deprescribing bezeichnet.
Dabei handelt es sich in keiner Weise um das Beenden einer Therapie, sondern vielmehr um eine kontrollierte und strukturierte Therapieoptimierung. Wie wichtig so eine regelmäßige Evaluation ist, zeigt sich unter anderem an den jährlich 250.000 Krankenhauseinweisungen aufgrund vermeidbarer Medikationsfehler sowie an den konstant steigenden Verordnungszahlen für Arzneimittel. [1]
Da es sich beim Deprescribing jedoch um eine organisatorische und zeitaufwändige Herausforderung handelt, behalten viele Ärzte eine bestehende und – auf den ersten Blick – funktionierende Therapie bei. Dabei hat Deprescribing nicht nur medizinische Vorteile, sondern kann auch das Verordnungsbudget entlasten und einen positiven Einfluss auf die Wirtschaftlichkeitsprüfung haben.
Bedeutung für die Wirtschaftlichkeit
Dass es sich beim Deprescribing auch um ein wirtschaftliches Thema handelt, wird bei einem Blick in die Arzneimittelvereinbarungen der Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) klar: 12 der 17 KVen weisen auf einen kritischen Umgang mit Polymedikation im Alter hin (Tab. S. 34).
Zu finden sind diese Hinweise meist unter den sogenannten qualitativen Zielen, die ergänzend zu den Ziel- oder Verordnungsquoten der “Sicherstellung einer bedarfsgerechten, wirtschaftlichen, zweckmäßigen und angemessenen Arzneimittelversorgung” dienen sollen. [2] Darüber hinaus kann Deprescribing auch einen direkten Einfluss auf die Verordnungsquoten der KVen haben.
Deutlich wird dies am Beispiel der Protonenpumpeninhibitoren (PPI). Aufgrund der immer weiter steigenden Verordnungszahlen trotz fehlender Indikationserweiterung wird seit mehreren Jahren ein kritisches Hinterfragen der Therapie gefordert.
So ist eine PPI-Dauermedikation unter anderem nach Krankenhausaufenthalten, nach einer erfolgreichen Helicobacter-pylori-Eradikation oder bei einer symptomfreien Refluxkrankheit nicht angezeigt und sollte in Absprache mit dem Patienten – wenn möglich – abgesetzt werden.
Aus diesem Grund wurden in einigen KVen Höchstquoten für die Verordnung von PPI beschlossen. Allgemeinmediziner in Nordrhein haben beispielsweise eine Zielquote von max. 22 Prozent für den Anteil an Patienten unter allen Arzneimittelpatienten, die mit PPI behandelt werden, zu beachten. [2]
Umsetzung in drei Schritten
Da es sich beim Deprescribing um mehr handelt als um das einfache Absetzen einer Therapie, erfordert es eine gute Planung und Zusammenarbeit mit dem Patienten und stellt somit eine besondere Herausforderung dar.
- Zunächst muss eine umfassende Arzneimittelanamnese (inklusive Präparaten aus der Selbstmedikation und Nahrungsergänzungsmitteln) durchgeführt und eine Strategie zum Absetzen bzw. Ausschleichen entwickelt werden.
- Diese muss verständlich und ausführlich mit dem Patienten sowie seinen Angehörigen und ggf. Betreuern abgesprochen und
- der Patient insbesondere im Anschluss überwacht und die Therapie erneut evaluiert werden. Geschieht dies nicht, besteht die Gefahr, dass der Patient das Gefühl bekommt, dass ihm seine Medikamente “weggenommen” werden oder sich eine Therapie bei ihm nicht mehr lohnt.
Am effektivsten funktioniert Deprescribing, wenn multidisziplinär Ärzte, Apotheker und Krankenhausapotheken zusammenarbeiten.
Praxistipp: Eine erste Hilfestellung beim Deprescribing bieten die Beers-, FORTA- und PRISCUS-Listen, die indikationsbezogene Empfehlungen zu häufig verordneten Arzneimitteln bei älteren Patienten geben (s. oben).
Auf einen Blick: Beers, FORTA oder PRISCUS?
- Beers-Liste wurde 1991 von dem Amerikaner Mark H. Beers erstellt und bietet eine Übersicht über potenziell inadäquate Medikamente bei älteren Patienten.
- FORTA-Liste wurde von der Universität Heidelberg entwickelt und bietet indikationsbezogene Empfehlungen über häufig verordnete Arzneimittel bei älteren Patienten.
- PRISCUS-Liste (lat. priscus, altehrwürdig) besteht seit 2010 und bietet ebenfalls eine Negativ-Übersicht (basierend auf einem Expertenkonsens).
Medikationsplan noch selten genutzt
Um das Medikationsmanagement zu optimieren, wurde unter anderem der bundeseinheitliche Medikationsplan ins Leben gerufen, der nach aktueller Planung mit der elektronischen Patientenakte (ePA) ergänzt wird. Auf diese Weise soll die Betreuung von Patienten mit fünf oder mehr Medikamenten in der Dauertherapie – auch interdisziplinär – erleichtert werden.
Bei der Umsetzung besteht jedoch noch deutliches Steigerungspotenzial: Laut dem BARMER-Arzneimittelreport 2020 verfügen lediglich 29 Prozent der über 65-jährigen Krankenhauspatienten über solch einen Medikationsplan. [4]
Um diesen Prozess zu unterstützen, entstehen unter Einbeziehung verschiedener Gesundheitsstrukturen auch immer mehr regionale Modellprojekte. Zu den prominentesten Beispielen gehören das 2017 in Westfalen-Lippe gestartete Projekt “Anwendung für digital unterstütztes Arzneimitteltherapie-Management” (AdAM), das über eine spezielle Software einzelne Patientenverordnungen übersichtlich darstellt, sowie die Arzneimittelinitiative ARMIN der KVen Sachsen und Thüringen.
Darüber hinaus entwickeln auch andere KVen vermehrt Projekte, die ein strukturiertes Medikationsmanagement erleichtern (s. Kasten S. 33).
Modellprojekte zur Verbesserung des Medikationsmanagements
- KV Berlin: eLiSa – electronic Life Saver
- KV Brandenburg: IGiB – Projekt „Polypharmazie“ des Thinktanks Innovative Gesundheitsversorgung in Brandenburg
- KV Nordrhein: Pilotprojekt „Digitales interprofessionelles Medikati- onsmanagement“
- KV Sachsen/KV Thüringen: Arzneimittelinitiative ARMIN
- KV Sachsen-Anhalt: SAPREMO – Sicheres Altern, Prävention und Demographie im Blick
- KV Westfalen-Lippe: AdAM – Anwendung für digital unterstütztes Arzneimitteltherapie-Management