Stuttgart. Der Abbau von Bürokratie sei entscheidend, um den Hausarztberuf auch in Zukunft attraktiv zu halten. Das einzig andere Szenario wäre, die medizinische und betriebswirtschaftliche Führung einer Praxis zu trennen, was faktisch jedoch einem Angestelltenverhältnis entspreche und den Beruf nicht per se attraktiver machen könne. Daher müsse die Entbürokratisierung weiter Ziel sein, auch mit Blick auf die „teils sehr lukrativen Anstellungen in Kliniken“. Das betonte Prof. Karl Lauterbach, Mitglied des Deutschen Bundestags und Gesundheitsexperte der SPD, am Mittwochabend (27. Januar) als Gast der ersten „Online-Sprechstunde“ des Hausärzteverbandes Baden-Württemberg. Sowohl er als auch seine Partei stünden dabei nach wie vor “voll und ganz” zur Hausarztzentrierten Versorgung (HZV).
Angestoßen hatte das Thema ein Hausarzt, der dem Bundestagsabgeordneten gegenüber kritisierte, dass „wir uns in eine Richtung entwickeln, die es für Einzelpraxen, aber auch kleinere Medizinische Versorgungszentren (MVZ) immer schwerer macht“. Er erinnerte dabei etwa an Brand- oder Datenschutz. Ein bedeutender Teil der Arztzeit gehe heute für nichtärztliche Aufgaben drauf, herrschte Einigkeit.
Daneben sei der Aufkauf von MVZ durch Investoren eine „hochproblematische Entwicklung“, pflichtete Lauterbach Stimmen aus der Praxis zu. „Hier wären rechtliche Schutzvorkehrungen absolut richtig.”
“Online-Sprechstunde” verschafft Praxen Gehör
Dass Hausärzte und der Politiker so zu verschiedenen Themen ins Gespräch kommen, war explizit Ziel der neuen “Online-Sprechstunde”. Der Hausärzteverband Baden-Württemberg hat das Format als bislang einmalige Möglichkeit für Hausärztinnen und Hausärzte initiiert, um mit prominenten Gesundheitspolitikern und anderen Persönlichkeiten ins Gespräch zu kommen (s. Kasten unten). Der mm medizin + medien Verlag, bei dem „Der Hausarzt“ erscheint, unterstützt das neue Format als Kooperationspartner. Zum Auftakt diskutierten am Mittwochabend 20 Hausärztinnen und Hausärzte ihre Fragen mit Lauterbach.
Dabei sprach er den Hausärztinnen und Hausärzten gleich zu Beginn des Abends seinen Dank aus. Er kenne die Probleme in der Praxis und er könne versichern, dass er die Leistungen der Hausärzte wahrnehme und dies an entscheidenden Stellen des Politikbetriebs platziere.
Mutationen bereiten “große Sorgen”
Die Corona-Pandemie und die aktuelle Debatte rund um Impfstofflieferungen und -prozedere treiben sowohl Lauterbach als auch die anwesenden Hausärztinnen und Hausärzte um, wie die Redezeit zu diesem Thema verdeutlichte. Die drei bekannten Mutationen aus Großbritannien, Südafrika und Brasilien bereiteten aktuell „große Sorgen“ und möglicherweise auch „große Schwierigkeiten“, betonte Lauterbach. Die höhere Infektiösität mache den „Sommer-Effekt“, wie man ihn 2020 beobachtet hatte, kaputt, sodass er in den kommenden Monaten mit keiner Entspannung rechne.
Praxis-Tipp: Ein Kollege gab in der “Online-Sprechstunde” den Tipp, dass seine Laborgemeinschaft kostenfrei eine regelhafte Sequenzierung über die PCR anbiete. Sprich, die von ihm genommenen Proben würden zu 100 Prozent auf die drei neuen Mutanten geprüft, nicht nur die bundesweit vorgesehenen 5-10 Prozent der Proben. Laut der aktuellen Ausgabe des “Coronavirus-Update”-Podcasts (NDRInfo) sind bislang keine innerdeutschen Übertragungen bekannt (Stand 26.1.). Vor allem bei entsprechender Reise-Anamnese sollte daher in Absprache mit dem Labor geprüft werden, ob möglicherweise gezielt nach einer Mutation gesucht werden kann, sofern keine 100-Prozent-Abdeckung möglich ist.
Hausärzte können in ihren Praxen impfen
Deutliche Kritik äußerte Lauterbach an der zu späten Impfstoffbestellung der EU. 2,7 Milliarden Euro sei für 420 zu impfende Einwohner in der EU ausgegeben worden; im August bei AstraZeneca, im November bei BionTech/Pfizer, im Dezember schließlich bei Moderna. Bis Sommer könnten so aber nur 25 Millionen Menschen geimpft werden, rechnete er vor. Die USA hätten vier Monate früher und deutlich breiter Impfstoffe bestellt.
Dabei sehnt auch Lauterbach die Impfung durch die Hausarztpraxen herbei. Idealerweise, skizzierte er, impfe man dreigleisig: in Impfzentren, aufsuchend in Form von Heim- und Hausbesuchen sowie in den Praxen. Grundsätzlich sei die Corona-Impfung auch in den Praxen möglich, andere Länder hatten damit auch schon gute Erfahrungen gemacht, berichtete er. Ko-Moderatorin Sylvia Wagner, selbst niedergelassen in Blaustein (Baden-Württemberg) und im Vorstand des Landeshausärzteverbandes aktiv, erinnerte dabei an die Grippe-Schutzimpfung, bei der jährlich rund 20 Millionen Dosen in Hausarztpraxen verimpft werden.
Als Zielwert zur Eindämmung der Pandemie sieht Lauterbach aktuell einen R-Wert von 0,7. Die Inzidenz von 50/100.000 Neuinfektionen binnen 7 Tagen hält er für „vermutlich zu hoch“, damit die Gesundheitsämter die Kontrolle über die Kontaktverfolgung zurückerlangen können.