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LeitlinieKinderschutz in der Hausarztpraxis

Kindesmisshandlung ist häufig, wird im Gesundheitswesen aber selten erkannt. Wie lässt sich das ändern?

Im Jahr 2017 starben in Deutschland 162 Kinder und Jugendliche durch Gewaltanwendung, meist in der Familie. Der Großteil war unter sechs Jahre alt. [1] Nur 7,4 Prozent aller gemeldeten Fälle von Kindeswohlgefährdung wurden aus dem Gesundheitswesen an die Jugendämter weitergeleitet. Wie kann das sein, wo Pädiater und Allgemeinärzte Kinder doch regelmäßig sehen, behandeln und in Vorsorgeuntersuchungen auf Entwicklungsauffälligkeiten untersuchen?

Die Gründe sind vielfältig. So sind viele Ärzte unsicher in der Zuordnung von Verletzungen. Ist das Hämatom am Ohr des 7-Jährigen durch einen Sturz gegen das Sofa erklärbar? Ist die Verfärbung am Gesäß des zweijährigen Kindes eine Pigmentstörung oder ein abklingendes Hämatom? Wenn Verdacht auf Gewalteinwirkung aufkommt, besteht Zweifel über die rechtlichen Wege. Die Eltern auf den Verdacht einer Gewaltanwendung anzusprechen, führt womöglich dazu, dass sie die Praxis verlassen. Nicht zuletzt gibt der hektische Praxisalltag wenig Raum und Zeit für solche komplexen Fragestellungen.

Neue Leitlinie Kinderschutz

Konkrete Hilfestellungen für alle, die mit Kindern beruflich zu tun haben, bietet die Kinderschutzleitlinie von 2019 (s. Link-Tipps). An dieser S3-Leitlinie haben über 80 Fachgruppen mitgearbeitet, davon etwa die Hälfte aus nicht-medizinischen Berufsgruppen wie Jugendhilfe, Pädagogik, Psychologie und Soziale Arbeit. Die Handlungsstrategien der Berufsgruppen unterscheiden sich zum Teil, wesentliches und gemeinsames Merkmal ist jedoch die Netzwerkarbeit: Ohne eine funktionierende Kooperation zwischen Jugendhilfe, Gesundheitsversorgung und Bildungsbereich kann der Schutz des Kindeswohls nicht gelingen.

Frühzeitig Hilfe anbieten

Körperliche Misshandlung ist nur eine Form von Kindeswohlgefährdung. Andere Formen sind psychische Misshandlungen, Vernachlässigung und sexueller Missbrauch. Sie alle finden sich in jeder gesellschaftlichen Schicht. Gleichwohl gibt es Risikofaktoren, die statistisch vermehrt mit Kindeswohlgefährdung einhergehen. Dazu gehören Überforderung der Familie etwa durch ein Schreikind, Armut, enge Wohnverhältnisse sowie Gewalterfahrungen, Sucht- oder andere psychische Erkrankungen bei einem Elternteil. Hausärzte, die Kinder und auch deren Eltern behandeln, wissen häufig genauer um die familiären Verhältnisse. Dies ermöglicht es uns, eine mögliche Kindeswohlgefährdung frühzeitig zu erkennen und der betroffenen Familie Hilfestellungen anzubieten (zum Beispiel Beratungsstellen, familienunterstützende Dienste, Erziehungshilfen und Suchtberatung). Voraussetzung ist, dass Sie diese Dienste in ihrem Umfeld kennen, den Eltern Adressen geben oder gar Kontakte direkt vermitteln können.

Verletzungen richtig einordnen

Hausärztliche Aufgabe ist es auch, Verletzungen richtig einzuordnen. 75 Prozent aller Hämatome aufgrund von Misshandlung werden fehlinterpretiert. [2] Die Kinderschutzleitlinie bietet hier konkrete Hilfestellungen: Mit zwei Diagnostikkarten zeigt sie die Unterschiede in der Verteilung von Hämatomen bei Kindern nach akzidentellen und nicht-akzidentellen Verletzungen auf (s. Abb. 7+8 und Link-Tipps).

Kinder sind aufgrund ihres Bewegungsdrangs und der sich erst langsam entwickelnden Körperkoordination prädestiniert für Hämatome. Akzidentelle Verletzungen sind häufig und zeigen sich in erster Linie an führenden Stellen (Stirn), exponierten Stellen (Knie, Ellenbogen) und Stellen, an denen Haut über Knochen liegt (Schienbein).

Verdächtig sind Hämatome an Weichteilen (Wangen, Ohr, Bauch, Gesäß) und geformte Hämatome (Streifen, Fingerabdruck). Hämatome bei Säuglingen, die sich noch nicht selbst bewegen, sind hochgradig verdächtig auf Misshandlung. Auch thermische Verletzungen sind im Kindesalter nicht selten. Ein typischer Unfall ist das Übergießen von oben mit heißer Flüssigkeit (zum Beispiel Topf mit heißem Wasser, Teekanne). Dabei entstehen unregelmäßige Wundränder und asymmetrisch verteilte Spritz- und Tropfmuster. Wenn Kinder oder deren Extremitäten absichtlich in heißes Wasser eingetaucht werden, kommt es hingegen oft zu symmetrischen Verbrühungen (handschuh- oder sockenförmig) mit scharfer Abgrenzung zur umgebenden gesunden Haut. Typische Lokalisationen sind Hände, Unterarme, Füße, Unterschenkel und Gesäß. Kreisförmige, tiefreichende Verbrennungen der Haut kann ein absichtliches Aufpressen einer Zigarette verursachen, wobei sich dann die Fläche der Zigarette (Durchmesser 0,75-1 cm) auf der Haut darstellt (s. Abb. 6). Bei unfallbedingtem oder flüchtigem fremdbeigebrachten Kontakt mit einer Zigarette findet sich hingegen eine oberflächliche Verletzung (“Wischspur”). Große runde Verbrennungen am Gesäß entstehen auch dadurch, dass Kinder auf die heiße Herdplatte gesetzt werden.

Wichtig ist die Anamnese:Passen die Angaben zu der Verletzungsform und zum Entwicklungsstand des Kindes? Typisch für nicht-akzidentelle Verletzungen ist etwa die zeitverzögerte Vorstellung des Kindes in der Praxis. Auffällig kann auch sein, wenn das Kind nicht von den eigenen Eltern vorgestellt oder wenn ein Geschwisterkind für die Verletzung verantwortlich gemacht wird.

Vorgehen bei Verdacht

In solchen Verdachtssituationen sollten Sie Anamnese und Verletzung genau dokumentieren (möglichst Bilddokumentation mit Zentimetermaß). Je kleiner das Kind und je unklarer die Verletzungsursache, desto dringlicher sollte eine stationäre Einweisung erfolgen. Dabei geht es nicht nur um Klärung und Behandlung der aktuellen Verletzung, sondern auch um eine dann dringend erforderliche Ganzkörperuntersuchung eventuell mit Röntgen des Skelettsystems. Aber auch die differenzialdiagnostische Abklärung sollte dort erfolgen (zum Beispiel Gerinnungsstörung bei Hämatomen).

Im stationären Setting können unklare Verletzungen bei Kindern und Jugendlichen einfacher geklärt werden. An vielen Kinderkliniken gibt es inzwischen die in der Leitlinie geforderten interdisziplinären Kinderschutzgruppen. Diese sichern eine 24-stündige Bereitschaft in Verdachtsfällen von Gewalt an Kindern zu. Es lohnt sich, bereits aus der Praxis heraus Kontakt mit der Kinderschutzgruppe aufzunehmen, wenn man einen unklaren Verletzungsfall einweist (s. Link-Tipps).

Auf Vernachlässigung achten

Vernachlässigung ist die häufigste Form von Kindeswohlgefährdung. Dazu zählen emotionale Vernachlässigung (wiederholtes Nichterfüllen kindlicher Bedürfnisse, mangelnde Zuwendung) und psychische Misshandlung (zum Beispiel Entwertung, Instrumentalisieren des Kindes, Vorenthalten sozialer Kontakte). In der Hausarztpraxis präsentieren sich solche Familien gelegentlich etwa mit wiederholtem Nichteinhalten von Arztterminen, Nicht-Inanspruchnahme von Fördermaßnahmen und schlechtem Pflegezustand des Kindes. Auch für diese schwierigen Fälle gibt es konkrete Hilfestellungen für die hausärztliche Praxis. Jedes Jugendamt hält eine “insofern erfahrene Fachkraft” vor, die Sie um Rat fragen können, wenn Sie noch nicht sicher sind, ob eine Meldung ans Jugendamt angezeigt ist. Dabei können Sie das Kind pseudonymisiert vorstellen. Als Voraussetzung sollten Sie das Vertrauen der Familien zunächst für ein Gespräch nutzen, in dem Sie Hilfeangebote für die offensichtlichen Missstände aufzeigen.

Was tun bei sexuellem Missbrauch?

Über 12.000 angezeigte Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern zeigt die Polizeiliche Kriminalstatistik für 2018 [2]. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen. Fachkreise schätzen, dass in jeder Grundschulklasse ein bis zwei Kinder betroffen sind. Die Täter stammen meist aus dem Umfeld der Opfer.

Selten kommt es zur Akutvorstellung nach einem vermuteten sexuellen Missbrauch. Als Hausarzt sollten Sie mit dem Thema dennoch insoweit vertraut sein, dass Sie besorgte Eltern an entsprechende Beratungsstellen oder in Kinderkliniken mit Kinderschutzgruppen verweisen können. Die körperlichen Spuren von sexuellem Missbrauch wie Verletzungen des Genitals verheilen in der Regel innerhalb weniger Tage und können später kaum nachgewiesen werden, schon gar nicht von nicht geschultenÄrzten. Eine große Hilfe für die hausärztliche Praxis stellt die Medizinische Kinderschutzhotline dar. Angehörige der Heilberufe können sich dort bei Verdachtsfällen von Kindeswohlgefährung rund um die Uhr beraten lassen (s. Kasten).

Medizinische Kinderschutzhotline

Die Medizinische Kinderschutzhotline (www.kinderschutzhotline.de) ist ein telefonisches Beratungsangebot für Angehörige der Heilberufe bei Verdachtsfällen von Kindesmisshandlung, Vernachlässigung und sexuellem Kindesmissbrauch. Hausärzte können sich hier im Falle einer akuten Kindesmisshandlung von geschulten Ärzten der Uniklinik Ulm und des DRK Klinikums Berlin-Westend beraten lassen. Die Hotline ist kostenfrei und 24 Stunden erreichbar: 0800 19 210 00

Tipps für die Hausarztpraxis

Jedes Kind hat einen Arzt – und dieser sollte nicht wegschauen, wenn der Kinderschutz gefährdet ist:

  • Bei Verletzungen von Kindern und Jugendlichen ist eine genaue Anamnese und Dokumentation angezeigt.
  • Denken Sie das Unvorstellbare: Kindeswohlgefährdung findet in allen gesellschaftlichen Schichten statt
  • Halten Sie Adressen für lokale Unterstützungsangebote für Familien vor.
  • Suchen Sie Kontakt zum örtlichen Jugendamt.
  • Nutzen Sie bei Bedarf die Medizinische Kinderschutzhotline (s. Kasten).
  • Abbildung: Hämatome bei gesunden Kindern unter 6 Jahren

Quelle: Kinderschutzleitlinie – Kitteltaschenkarte Hämatome

Literatur:

  1. Langfassung der Leitlinie “Kindesmisshandlung, -missbrauch, -vernachlässigung unter Einbindung der Jugendhilfe und Pädagogik (Kinderschutzleitlinie)”. AWMF-Registernummer: 027–069. www.hausarzt.link/42Y2Q
  2. Brüning T. Vortrag: Kinder brauchen unseren Schutz. Die medizinische Kinderschutzambulanz an der Vestischen Kinder- und Jugendklinik. Qualitätszirkel Forum Pädiatrie der Hausärzte in WL, 19.02.2020.
  3. Weiterführende Literatur online unter www.hausarzt.digital

Interessenskonflikte: Die Autorin hat keine deklariert.

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