“Saskia, komm schnell! Frau Meier ist im Wartezimmer über das Schaukelpferd gestürzt!”, schallt es am Montagmorgen durch den Praxisflur. Sie lassen die Türklinke zu Ihrem Sprechzimmer wieder los. Ihnen schießt durch den Kopf: “Ausgerechnet bei uns. Ausgerechnet Frau Meier. Seit zwölf Jahren ist eine schwere Osteoporose bekannt. Sie lebt allein, ist verwitwet, keine Angehörigen in der Nähe. Der Tag hätte besser beginnen können.”
Die nüchternen Fakten zuerst: 2016 hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) “Maßnahmen zur Vermeidung von Stürzen und Sturzfolgen” in die Qualitätsmanagement-Richtlinie aufgenommen. Immerhin betreut laut Robert Koch-Institut (RKI) jede Hausarztpraxis in Deutschland pro Jahr mindestens zwei Patienten mit sturzbedingten Oberschenkelhalsfrakturen. Ältere Personen, insbesondere Bewohner von Heimen, leiden unter den Folgen: Mobilitätseinschränkung, Schmerzen sowie ein erhöhter Aufwand an Betreuung. So weit, so schlecht. Was aber kann oder sollte eine Hausarztpraxis tun?
QM kann helfen
Sturzprophylaxe ist eine Herausforderung, weil es sich um eine Präventionsmaßnahme handelt. Die Einschätzung ist schwierig und die primäre Motivation ist auf beiden Seiten eher niedrig. Weder die Patienten noch die Hausarztpraxen verspüren einen Handlungs- oder Leidensdruck. Gute Qualitätsmanagement-Systeme (QM) bieten jedoch eine Unterstützung.
Sie richten den Blick auch auf Indikatoren, die sich mit dem Gesundheitszustand der Patienten befassen. Indikatoren geben zahlenbasierte Hinweise auf veränderbare Zustände. Sie animieren Praxen dazu, ihre Aktivitäten zu reflektieren und Maßnahmen zu ergreifen, die die Versorgung verbessern.
Risikopatienten identifizieren
Neben der schwierigen Ausgangs- und Motivationslage bei den Beteiligten gibt es allerdings ein weiteres Problem: Wie kann mit einem angemessenen Aufwand ein akzeptables Assessment erfolgen? Es kommt zunächst darauf an, die Patienten zu identifizieren, die für Stürze besonders gefährdet sind (case finding). Britische und amerikanische Leitlinien empfehlen hierzu, dass Patienten drei Fragen beantworten sollen:
- Sind Sie in den letzten 12 Monaten mindestens zweimal gestürzt?
- Haben Sie bereits einmal einen Arzt wegen eines Sturzes aufgesucht?
- Haben Sie Schwierigkeiten mit dem Gehen oder mit der Balance?
Dies können Praxen zum Beispiel in die Gesundheitsuntersuchung einbinden. Bejahen Patienten nur eine dieser drei Triggerfragen, sollten Praxen weitere Erhebungen beim Patienten einleiten. So kann ein geriatrisches Basisassessment stattfinden, in das das Esslinger Sturzrisikoassessment integriert wird. Dieses erfasst fünf Risikofaktoren:
- Kraft beim Chair- rising-Test (Aufstehtest)
- Koordination beim Tandemstand und Tandemgang
- Visusverschlechterung
- Medikamenteneinflüsse (vor allem Schlafmittel, Neuroleptika, Antidepressiva, Antikonvulsiva)
- Kognitive Einschränkungen
Mögliche Maßnahmen
Bei Risikopatienten wird mit einem Sturz-Interventionsprotokoll (care plan) erstens entschieden, ob gezielte Maßnahmen sinnvoll sind. Zweitens überlegt die Praxis, wie sie diese umsetzen soll. Drittens prüft sie, ob die Veränderungen wirksam waren. Beispielhaft können Hausarztteams folgende Maßnahmen berücksichtigen:
- Sehkraft prüfen, ggf. verbessern
- Medikamenteneinfluss prüfen
- Blutdruck kontrollieren
- Mobilität unterstützen (Training, Hilfsmittel)
- geeignetes Schuhwerk wählen oder darauf hinweisen
In der häuslichen Umgebung:
- Betthöhe anpassen
- Bettalarmsystem erwägen (Matte im Bett)
- Bodenbeläge optimieren
- Stolperfallen beseitigen
- Haltegriffe anbringen
- Beleuchtung erweitern (Nachtlicht)
- Notruf organisieren
Mit Betroffenen und Angehörigen kann die Praxis die Vorhaben in einem partnerschaftlichen Entscheidungsprozess priorisieren. Die besprochenen Veränderungen sind kontinuierlich zu überprüfen und anzupassen.
Hilfe im Netz
Darüber hinaus können Praxen die Patienten zur weiteren Eigeninitiative inspirieren. Die “Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz” in Hamburg bietet online dazu ein umfangreiches Informationspaket unter www.hausarzt.link/Vv2or.
Die Broschüre “Sicher gehen – weiter sehen” enthält für alle Beteiligten zahlreiche Tipps und Anregungen für Maßnahmen, um Stürze und Sturzfolgen zu vermeiden.
In kaum einem Bereich der Hausarztmedizin können Praxen und Patienten mit wenig Aufwand so viel erreichen. Was hindert Sie daran, bei der nächsten Teambesprechung mit dem Projekt zu starten?
Fazit
- Stürze sind häufig und haben unangenehme Folgen.
- Hausärzte sind bestens geeignet, um sturzgefährdete Personen zu identifizieren.
- Gute QM-Systeme helfen, mögliche Veränderungen zur Sturzprophylaxe zu identifizieren. Mit wenig Aufwand können Praxen und Patienten sehr viel erreichen.
- Ein Monitoring von partnerschaftlich vereinbarten individuellen Präventionsmaßnahmen ist das A und O der Sturzprophylaxe.