Die Verwirrung in der Bevölkerung ist perfekt: Wochenlang wurde gepredigt, dass die Reproduktionszahl R0 des neuen Coronavirus unter 1 gedrückt werden muss. Denn dann stecke ein Infizierter weniger als einen anderen in der Generationszeit an. Mitte April lag R0 dem Robert Koch-Institut (RKI) zufolge wochenlang bei 0,7. Daraufhin beschloss die Regierung, erste Maßnahmen zu lockern. Bereits wenige Tage später berichteten Medien, R0 sei schon wieder auf 1 gestiegen.
Schätzfehler ist zu berücksichtigen
Diese Meldungen “sind nicht unbedingt Grund zur Besorgnis”, sagen die Autoren der “Unstatistik des Monats”. Denn weitgehend unbemerkt bliebe, dass das RKI am 9. April angegeben hat, dass R0 mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent zwischen 0,8 und 1,1 lag. Beim erneuten Anstieg von 0,1 bis 0,2 “kann es sich durchaus um eine Schwankung innerhalb des Schätzfehlers handeln. Es ist sogar durchaus möglich, dass die wahre Reproduktionsrate konstant geblieben oder leicht gefallen ist”, erklären die Unstatistik-Autoren.
Grund dafür ist, dass R0 kompliziert berechnet wird. Diese “ist nicht trivial, erfordert einige wichtige Annahmen und ist daher mit einer erheblichen statistischen Unsicherheit behaftet. Die Größenordnung lässt sich zudem auf der Basis der bisherigen Daten nur schwer abschätzen”, so die Autoren. Unter anderem gehen die Generationszeit (das RKI schätzt vier Tage), die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen in dieser Zeit sowie die daraus entstehenden Neuerkrankungen ein, die aber nur anhand der Neuinfektionen geschätzt wird. Letzteres bezeichnet das RKI als “Nowcasting” und hier gibt es deutliche statistische Schwankungen. So gab das RKI für den 1. April an, dass die geschätzten Neuerkrankungen zwischen 3.000 und 6.000 neuen Fällen variiere, je nachdem, wann sie ermittelt wurden. “Deshalb handelt es sich bei der Reproduktionszahl um eine Schätzung mit einem nicht unerheblichen Schätzfehler, der bei der Bewertung der aktuellen Lage immer berücksichtigt werden muss”, folgern die Unstatistik-Autoren.
Hinzu kommen weitere Einflüsse: Angenommen, die Dunkelziffer der nicht erfassten Infektionen bleibe gleich, aber es wird mehr getestet. Dann nähmen die gemeldeten Fälle zu, die Dunkelziffer sinke. “Damit wird jedoch wiederum das geschätzte R tendenziell steigen, ohne dass sich in der Realität der Infektionsverlauf geändert hat. Dies dürfte vor allem in der Anfangszeit der Pandemie die Schätzungen beeinflusst haben. Somit ist der Anstieg der Fallzahlen nur begrenzt aussagekräftig in Bezug auf die tatsächliche Ausbreitung”, erklären die Autoren der Unstatistik. Nur eine hinreichend große repräsentative Panel- Stichprobe von Personen, die sich regelmäßig in kurzer Frequenz einem Test unterziehen, löse das Problem der mangelnden Kenntnis der Dunkelziffer und damit der wahren Ansteckungsgefahr.