Im Jahr 1989 war ich Assistenzarzt im Marienkrankenhaus in Hamburg. Die deutsche Teilung war für mich stets ein schwer begreiflicher Zustand. Nach dem unerwarteten Fall der Mauer stand für mich deshalb fest, dass ich diese einmalige Situation aktiv mitgestalten wollte. So bewarb ich mich in Krankenhäusern in der DDR, um meine Weiterbildung fortzusetzen. Tatsächlich bekam ich im März 1990 eine Stelle an der Klinik für Innere Medizin der Universität Rostock. Als “Ausländer” benötigte ich eine Aufenthaltsgenehmigung und Arbeitserlaubnis. Wie in der DDR üblich, erhielt ich neben dem Arbeitsvertrag auch einen Qualifizierungsvertrag, einen verpflichtenden Plan für meine Facharztweiterbildung.
Weil es damals keinen Wohnungsmarkt gab, lebte ich ein halbes Jahr im Dachgeschoss eines Kollegenehepaars, bis ich ein Zimmer der Universität für zunächst 20 Mark im Monat warm mieten konnte.
Der Anfangsverdienst war 1.200 Ostmark brutto. Bei einem Tauschkurs von 1:4 war das recht bescheiden. Aber mit der Währungsunion und nach einigen Tariferhöhungen konnte ich damit gut auskommen.
Arzneinamen bereiten Probleme
Die klinische Tätigkeit und die Abläufe auf Station unterschieden sich von West nach Ost nur wenig. Ein großes Anfangsproblem, vor allem in Nachtdiensten, waren aber die Medikamente, die allesamt andere Namen hatten. So hatte ich die “Rote Liste” der DDR, erfreulicherweise ein Taschenbuch, stets in der Kitteltasche. Es folgten zahlreiche Umbrüche. 1991 gingen viele habilitierte Oberärzte, der akademische Mittelbau, nahezu schlagartig in die Niederlassung, was die Funktionalität der Klinik nachhaltig beeinflusste. Auch griff die sogenannte Ehrenkommission in dieser Zeit ein und entließ jede Woche Ärztinnen und Ärzte, die dem System oder der Staatssicherheit zu nahe gestanden hatten.
Das war für mich menschlich besonders schwer. Ich war ja in der Zeit vor der Wende nicht dabei, hatte aber diese Kollegen als Ärzte und Menschen in der Zusammenarbeit auf Station oder im Nachtdienst erlebt: Wie hätte ich diese jetzt verurteilen sollen?
Die Stimmung drehte sich insgesamt: Ich erinnere mich an die plötzliche, teils kaschierte Massenarbeitslosigkeit und die überschwappenden Horden von Versicherungsverkäufern, Maklern, Beratern und Treuhändern, die unter Ausnutzung ökonomischer Unerfahrenheit vielen Menschen Schaden zufügten.
Facharztprüfung und Neuaufbau
In der Klinik gab es teilweise internationale Forschung und Spitzenmedizin. Es gab zu DDR-Zeiten etwa eine US-amerikanische Partnerklinik mit regem Austausch. Der Leiter, Prof. Horst Klinkmann, war 1990 zum Präsidenten der Akademie der Wissenschaften berufen worden. Aber nur eine Tür weiter gab es Dysfunktionalitäten, die auch nach 30 Jahren kaum in glaubhafte Worte zu fassen sind. Ende 1991 waren ganze Schichten von Akademikern verschwunden. Dann begann eine Art Neuaufbau. 1992 wurde ich Facharzt nach der Weiterbildungsordnung der DDR – als der immer noch einzige Westdeutsche an der Klinik. Bis dahin hatte sich kein zweiter beworben.
Daraufhin verließ ich aber Rostock in Richtung USA, da ich nach der wilden Umbruchzeit einige Zweifel an dem Gelingen der Vereinigung bekommen hatte und Abstand von beiden Teilen Deutschlands suchte. Mit einem Stipendium bin ich dort noch einmal zurück an die Uni gegangen. Aber ich kam später zurück und arbeite heute als Hausarzt in meiner Heimatstadt Hamburg.
Serie: 30 Jahre Mauerfall
Rund um das Jubiläum des Mauerfalls hat “Der Hausarzt” außergewöhnliche Lebensgeschichten von Hausärzten zusammengestellt. Alle Beiträge lesen Sie unter www.hausarzt.digital