Wiesbaden. Meist korreliert die Zahl der verschriebenen Arzneimittel mit der Zahl der Erkrankungen des Patienten, aber es gibt auch extreme Fälle von gesunden Menschen, die zahlreiche Medikamente einnehmen. Das berichtete Prof. Daniel Grandt vom Klinikum Saarbrücken am Montag (6.5.) beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) in Wiesbaden.
Einige Krankheiten ließen sich mit wenigen Medikamenten gemeinsam behandeln, bei anderen sei es schwieriger. Grundsätzlich lässt sich jedoch bei vielen Patienten die Zahl der Medikamente reduzieren, wenn Ärzte systematisch vorgehen, so Grandt: Einer irische Studie fand bei 64 von 70 Patienten, die im Schnitt 83 Jahre alt waren und 7,7 Medikamente einnahmen, das Potenzial, Medikamente abzusetzen.
Von den Arzneimitteln, die die Patienten erhielten, waren 58 Prozent nach genauer Prüfung nicht notwendig. Doch nicht immer waren die Patienten damit einverstanden, ein Medikament abzusetzen: In der Studie akzeptierten zwei Drittel (66 Prozent) den Vorschlag. Ein Viertel war unsicher – in solchen Fällen sollten Ärzte die Patienten über das Risiko aufklären. Etwa jeder Zehnte (neun Prozent) war nicht einverstanden. Bei allen Patienten, bei denen die Medikation verringert wurde, besserte sich in dieser Studie das klinische Bild.
Wirkung und Risiko richtig einschätzen
Wie erfolgversprechend es ist, ein Medikament abzusetzen, hängt auch davon ab, wie der Patient reagiert. Verschiedene ablehnende Reaktionen können sein: “Was bekomme ich stattdessen?”, “Aber das hat der Spezialist verordnet!”, “Es geht doch nur ums Sparen”. Dabei überschätzten Patienten die Wirkung oder unterschätzten die Risiken, sagt Grandt. Aber auch Ärzte selbst beurteilen Wirkung und Risiko nicht immer zutreffend.
Bei der Einschätzung können die Priscus-Liste und die amerikanische Choosing wisely-Initiative gute Hinweise geben (www.choosingwisely.org). Auch die STOPP-Kriterien (Screening Tool of Older Person’s Prescriptions) hält Grandt für sehr nützlich. Denn das Risiko lässt sich nicht einfach an der Zahl der Medikamente vorhersagen, sondern hängt von vielen Faktoren ab, darunter etwa Indikation, Dosierung und Therapiedauer.
STOPP- und Start-Kriterien
Trotz aller Sorgfalt kann sich zeigen, dass ein Medikament doch notwendig ist. Dann hat nach Meinung von Grandt der Arzt nicht versagt, sondern einfach einen erfolglosen Auslassversuch unternommen. Neben den STOPP-Kriterien, nach denen Medikamente abgesetzt werden können, helfen die Start-Kriterien, solche Arzneimittel zu erkennen, die für den Patienten notwendig sind. Denn auch bei Patienten mit Polypharmazie kann es fatale Folgen haben, nötige Medikamente abzusetzen. Es komme immer darauf an, im Einzelfall zu beurteilen, was der Patient brauche und was nicht, sagt Grandt. Dafür seien die folgenden Informationen zu Medikation und Patient wichtig.
Informationen über eingenommene Medikamente
- Welche Arzneimittel sind verordnet (Indikation, geplante Dauer und Dosisänderungen)?
- Welche Selbstmedikation nimmt der Patient? Dazu zählen auch verschreibungspflichtige Medikamente, die der Patient von anderen Personen bekommt oder noch in der Schublade hat.
- Wie ist die Adhärenz für die einzelnen Medikamente?
- Wie wirksam und verträglich sind die aktuellen Medikamente?
- Wie waren Unwirksamkeiten oder Unverträglichkeiten früherer Medikamente?
Informationen über den Patienten
- Wie alt ist der Patient und welches Geschlecht hat er?
- Wie ist die Organfunktion (besonders Nierenfunktion)
- Welche Diagnosen hat der Patient?
- Welche Allergien und Unverträglichkeiten hat der Patient?
- Welche Vorlieben hat der Patient?
Sind alle Informationen gesammelt, können Ärzte die Indikation für die einzelnen Arzneimittel und die Dosierung und Verabreichungsform der notwendigen Medikamente prüfen. Dann können sie Interaktionen zwischen Arzneimitteln und START-STOPP Kriterien kontrollieren.
Quelle: Grandt D. Management von Polypharmazie, Symposium der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, DGIM, Wiesbaden, 6.5.2019