Bei Menschen mit Behinderung kommt es bei der Diagnostik und Behandlung auf mögliche Wechselwirkungen der Behinderung mit der möglichen Erkrankung an: Sind die Symptome Ausdruck einer körperlichen Erkrankung oder kennzeichnen sie den Grad der Behinderung?
Behandlungsziele
Mit zunehmendem Ausmaß der Behinderung treten Komorbiditäten wie beispielsweise Ernährungsprobleme, gastroösophagealer Reflux, Atemwegserkrankungen, schwere Epilepsieverläufe und Sekundärveränderungen bei Zerebralparese auf. Dadurch ist die Teilhabe am Alltagsgeschehen deutlich erschwert. Auch das Ziel der Behandlung ist ein anderes: Da eine Heilung der Grunderkrankung häufig nicht möglich ist, gilt es, die gesundheitliche Situation zu stabilisieren.
Ein Behandlungsziel in der Behindertenmedizin ist der Erhalt und wenn möglich, die Verbesserung des Gesundheitszustands. Das allein reicht aber nicht aus. Vielmehr gilt es, auch vorhandene Funktionen und Fähigkeiten zu fördern und Chronifizierungen neben Komplikationen und Folgeerkrankungen zu vermeiden.
Das bedeutet, dass wir oftmals vorausschauend verordnen müssen, gerade in der Heilmittelversorgung. Wichtig ist, dass der Patient optimal, seinen Erkrankungen angepasst, versorgt wird. Eine Unter- oder Überversorgung oder gar eine Fehlversorgung muss vermieden werden.
Mutmaßlichen Willen umsetzen
Eine Behandlung von Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung ist auch dadurch erschwert, dass der Betroffene von Geburt an nicht geschäftsfähig ist. Und wer in seinem Leben nie geschäftsfähig war, kann keine Patientenverfügung erstellen. Hier gibt es aber eine Vereinbarung (Paragraf 132g Abs. 3 SGB V), wonach man sich trotz fehlender Einwilligungsfähigkeit zur gesundheitlichen Versorgungsplanung beraten lassen kann. Vor diesem Problem stehen – neben uns Hausärzten – immer wieder die Notärzte.
Was bedeutet das für den Betroffenen, aber auch für uns Ärzte? In der Gesetzgebung heißt es, dass bei fehlender Willenserklärung der mutmaßliche Wille gilt und im Zweifelsfall immer das Leben zu erhalten ist unter Beachtung eines lebenswerten Lebens, aber auch in Würde sterben zu dürfen.
Das bedeutet aber auch, dass hier je nach Auslegung, eine Situation unterschiedlich bewertet werden kann. Zudem auch der mutmaßliche Wille anhand von schriftlichen Äußerungen des Betroffenen festgemacht werden sollte. Das ist in der Behindertenmedizin sehr schwierig. Hier kann nur die allgemeine Empfehlung ausgesprochen werden – neben der oben erwähnten Vereinbarung – dass sich in so einer Situation alle Beteiligten, also neben dem Arzt die unmittelbaren Angehörigen, der Bezugsmitarbeiter und der rechtliche Betreuer zusammensetzen, um den mutmaßlichen Willen zu ermitteln. Betrachtet werden sollte neben der Lebenseinstellung die religiöse Überzeugung und selbstverständlich das Alter, der Erkrankungszustand und die Prognose. Wichtig ist, dass dann die Umsetzung des mutmaßlichen Willens Aufgabe des rechtlichen Betreuers ist. Das Familien- oder Amtsgericht muss nur hinzugezogen werden, wenn sich Betreuer und Arzt nicht einigen können.
Schwierige Kommunikation
Nicht zu unterschätzen in der Behandlung ist die Kommunikation, die häufig nicht möglich ist. Symptome können durch den Betroffenen nicht genau beschrieben werden und auch das Verhalten kann zu Fehlinterpretationen führen. Die Körpersprache wie Mimik, Gestik, Blickkontakt, Seufzen, Lautäußerungen und Abwehrverhalten kann im Einzelfall weiterhelfen. Auch das Verhalten wie fehlendes Interesse an Nahrung und der Umgebung sowie ein verändertes Sozialverhalten geben Hinweise.
Bei der körperlichen Untersuchung kann eine erhöhte Pulsfrequenz, ein erhöhter Blutdruck oder eine flache Atmung auffallen. Aber auch eine neu aufgetretene Verhaltensstörung, Ruhelosigkeit, nicht schlafen können sind Anzeichen dafür, dass es dem Betroffenen nicht gut geht.
Damit sind wir Hausärzte auf eine “strukturierte” Fremdbeobachtung und auch auf die Fremdanamnese durch Bezugsmitarbeiter, Angehörige, Betreuer angewiesen, die den Kranken sehr gut kennen und häufig auch das Verhalten richtig einschätzen können. Umso wichtiger ist es, dass Menschen mit Behinderung auch zu den Arztbesuchen begleitet werden, da sonst infolge der fehlenden Kommunikation eine Unter- oder auch Überdiagnostik erfolgen kann.
Die körperliche Untersuchung gestaltet sich nicht immer einfach. Es kann vorkommen, dass der Betroffene sich nicht untersuchen lassen will oder dass man ihn aufgrund seiner körperlichen Einschränkungen nicht vernünftig untersuchen kann. Im Ergebnis bleibt dann nur die Untersuchung unter Sedierung mit einem kurz wirksamen Benzodiazepin oder mit einem Neuroleptikum.
Neben der klassischen medizinischen Diagnostik kann im Bedarfsfall auch ein umfassendes Assessment auf der Grundlage der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) notwendig sein. Hierbei werden Kompetenzen und Ressourcen erfasst, die für den unmittelbaren Prozess genutzt und mobilisiert werden. Es gilt die Personen- und Umwelt-bezogenen Förderfaktoren zu nutzen.
Individuelle Therapie
Die Therapie eines Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung können wir Hausärzte nicht allein bewältigen. Neben der medikamentösen Therapie sind hier in der Behandlung die Heil- und besonders auch die Hilfsmittelversorgung von entscheidender Bedeutung. Individuelle Therapie bedeutet hier auch Anpassung an eine individuelle Umwelt.
Um einen Patienten mit Behinderung optimal versorgen zu können, haben wir die Möglichkeit, diesen im multiprofessionellen Team für Erwachsene mit geistiger oder mehrfacher Behinderung (MZEB) zu überweisen. Hier gibt es Möglichkeiten der Weiterbehandlung, die uns Ärzten im ambulanten Regelsystem nicht zur Verfügung stehen. Hier wird der Schwerpunkt unter anderem auf die Wechselbeziehung zwischen der Erkrankung und der vorbestehenden Behinderung gelegt. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren werden entsprechend in den sozialpädagogischen Zentren (SPZ) versorgt.
Fazit
Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung benötigen eine individuelle Behandlung. Der Behandler ist nie ein Einzelner, sondern immer ein Team. Wichtig ist, die Situation aus der Sicht des Betroffenen zu sehen. Oberstes Ziel ist dessen Lebensqualität in seiner individuellen Umwelt.
Die Aufgabe des Hausarztes ist hier nicht nur die medizinische Behandlung, sondern die ärztliche Koordination in Teamsitzungen, um die vorliegenden Befundergebnisse im Hinblick auf Relevanz sowie Handlungsbedarf in Bezug auf weiterführende Untersuchungen, einschließlich der therapeutischen Konsequenzen gemeinsam im Interesse des Betroffenen zu bewerten.
Literatur bei der Verfasserin
Mögliche Interessenkonflikte: Die Autorin hat keine deklariert.