Alkoholsucht tritt oft gemeinsam mit einer Depression auf. “Meiner Erfahrung nach leidet etwa die Hälfte der Patienten mit depressiver Störung zugleich unter einer Alkoholstörung”, berichtete Prof. Christian Schütz von der University of British Columbia in Vancouver. Umgekehrt weisen rund ein Drittel der Patienten mit Alkoholstörung auch eine depressive Störung auf.
Männer mit psychischen Störungen neigen doppelt so häufig zu Alkoholproblemen wie Frauen und nehmen dreimal so häufig illegale Drogen. Mit zunehmender Schwere der Erkrankungen – der Depression oder der Alkoholabhängigkeit – erhöht sich die Wahrscheinlichkeit für eine Doppeldiagnose.
Eine Traumatisierung gilt als wichtigster Risikofaktor für die Entwicklung einer psychiatrischen Erkrankung bzw. einer Suchtabhängigkeit. Hier schlagen insbesondere Traumata in der frühen Kindheit zu Buche. In einer eigenen Untersuchung fand Schütz einen Zusammenhang zwischen frühkindlichem Missbrauch und zahlreichen psychiatrischen Erkrankungen (z.B. schwere depressive Störungen, Bipolare Störung, Schizophrenie, Posttraumatischer Belastungsstörung) sowie der Alkoholabhängigkeit. “Außerdem scheint eine frühkindliche Traumatisierung die Anfälligkeit für weitere Traumata im späteren Leben zu erhöhen”, erklärte Schütz.
Integrierter Versorgungspfad
Bei der Behandlung der Doppeldiagnose Alkoholabhängigkeit und Depression ist der Arzt meist auf sich alleine gestellt. In Studien wird das Thema selten behandelt, die Leitlinien fokussieren sich in der Regel auf eine Entität. Komorbiditäten werden kaum aufgegriffen – ein deutliches Defizit angesichts der Häufigkeit dieser Problematik.
Laut Schütz spielt Kanada in diesem Bereich eine Vorreiterrolle, denn hier befassen sich zahlreiche Forschungsgruppen mit der Entwicklung von integrierten Behandlungen für Doppeldiagnosen. Gemeinsam mit einem Kollegen entwickelte Schütz einen integrierten Versorgungspfad (IVP), der “klinisch-pragmatische Schritte enthält”. Inzwischen wurde das Programm ausgeweitet und getestet.
In einer Analyse der initial eingeschlossenen 246 Patienten zeigte sich der Erfolg des strukturierten multidisziplinären Versorgungsplans: Die Abschlussrate der Behandlung betrug 70,7 Prozent und lag damit signifikant höher als in der Kontrollgruppe. Zudem reduzierten die Patienten im integrierten Versorgungspfad ihren wöchentlichen Alkoholkonsum um durchschnittlich 72 Prozent. Das Verlangen nach Alkohol sank um 42 Prozent und die depressiven Symptome verringerten sich um 64 bis 70 Prozent. Eine randomisierte kontrollierte klinische Studie steht laut Schütz noch aus.
Medikamente und Psychotherapie
Die integrierte Versorgung basiert auf Pharmakotherapie plus Psychotherapie. Bei der pharmazeutischen Behandlung der depressiven Störung nannte Schütz (gemäß einer Veröffentlichung: A.V. Samokhvalov, C.G. Schütz Suchtmedizin 2018, 20(1):12-13) als erste Wahl Sertralin und als zweite Option Fluoxetin, welches bei Gewichtsproblemen günstig sei. Alternativ sei Venlafaxin bei körperbetonter Depression bzw. Schmerzen gut geeignet und Mirtazapin, wenn Agitationen im Vordergrund stehen.
Parallel dazu erfolgt die Pharmakotherapie der Alkoholabhängigkeit mit Naltrexon als erste Wahl und alternativ mit Acamprosat oder Topiramat. “Anstelle von Topiramat empfehle ich mittlerweile eher Gabapentin, das in Studien vielversprechende Ergebnisse lieferte und auch bei zusätzlich auftretenden Schmerzen und Ängsten einen gewissen Effekt aufweist”, berichtete Schütz.
Der begleitende Psychotherapieplan ist im IVP Psychotherapie-Handbuch dargestellt und umfasst die kognitive Verhaltenstherapie, motivierende Gesprächsführung, dia- lektische Verhaltenstherapie sowie eine strukturierte Rückfallprävention. Im Verlauf von 16 Wochen finden insgesamt 15 Psychotherapie-Sitzungen statt. “Entscheidend für den Erfolg ist, beide Erkrankungen gleichzeitig anzugehen”, betonte Schütz.
Opiatabhängigkeit und psychische Komorbiditäten
“Bei der Behandlung von Opiatabhängigkeit und psychischen Störungen stehen wir mit leeren Händen da und müssen uns die Vorgehensweise zusammenklauben”, berichtete Dr. Kenneth Dürsteler aus Basel. Dabei zeigen Opiatabhängige oft mindestens eine komorbide psychische Störung – häufig sind dies affektive Störungen, Angst- oder Persönlichkeitsstörungen (PST).
Wie eine Studie zeigte, werden diese Komorbiditäten durch eine langfristige Substitutionstherapie nicht verbessert. Im Gegenteil: während Depressionen, Angststörungen oder PST unter der Substitution nahezu unverändert bleiben, nehmen andere Störungen wie z.B. psychotische Störungen tendenziell zu. Laut der Studienautoren weisen die Patienten gehäuft psychosoziale Krisen und eine schlechte Lebensqualität auf.
Als Folgen der psychischen Komorbiditäten nannte Dürsteler zudem eine schlechtere Prognose des Krankheits- und Behandlungsverlaufs sowie ein höheres Suizid- und Mortalitätsrisiko. Wie bei den Patienten mit Alkoholabhängigkeit und psychischen Störungen, ergab auch hier eine in der Schweiz durchgeführte Befragung, dass bei vielen Betroffenen eine frühkindliche traumatische Erfahrung vorlag.
Therapien individuell anpassen
Dürsteler plädierte für eine integrative Behandlung der Patienten. Diese ermögliche eine “dauerhafte Einbindung in ein ganzheitliches, interdisziplinär-vernetztes Behandlungssetting”, das aber vielerorts noch nicht angeboten werde.
Für die Behandlung der Opioidabhängigkeit raten die WHO-Leitlinien zu einer Erhaltungsbehandlung mit einem Opioidagonisten kombiniert mit psychosozialer Unterstützung. Diese Therapie verringert nicht nur die Mortalität und Morbidität sondern verbessert auch die Lebensqualität der Betroffenen. Dass die Opioidagonisten-Therapie (OAT) effektiv ist, zeigte eine umfangreiche Untersuchung aus der Schweiz.
Der Konsum von Heroin und Kokain verminderte sich unter OAT deutlich. “Mit Hilfe einer individuell angepassten, ausreichend hohen Dosis lassen sich Entzugssymptome vermeiden, das Craving unterdrücken und eine lebensgefährliche Überdosierung verhindern”, bestätigte Dürsteler.
Im Rahmen der integrativen Therapie sollte daher zunächst die Dosierung der OAT optimiert werden. Möglichst zeitnah ist eine pharmakologische Behandlung komorbider Störungen einzuleiten, zusammen mit einer psychotherapeutischen Betreuung. Bei den Komorbiditäten wird laut Dürsteler “der bedenklich hohe Alkoholkonsum vieler Patienten mit Opiatabhängigkeit und psychischen Störungen häufig übersehen.” Eine entsprechende Therapie kann jedoch auch unter einer OAT erfolgen.
Als verhaltenstherapeutische Ansätze kommen die kognitive Verhaltenstherapie, dialektische Verhaltenstherapie oder “Sicherheit finden” in Frage. Letzteres dient der psychischen Stabilisierung etwa bei Suchtkranken mit posttraumatischen Störungen.
Therapien, die für andere psychische Störungen entwickelt wurden, lassen sich laut Dürsteler nicht per se auf die Behandlung Opiatabhängiger übertragen. “Doch in Ermangelung spezifischer Ansätze sind sie einen Versuch wert.” Für den Therapeuten sei wichtig, eine Balance zu finden, zwischen annehmend-stützender und wohlwollend-fordernder Haltung. Auch kleine Fortschritte der Patienten sollten unterstützt werden.
Kokainabhängigkeit und psychische Störungen
“Komorbide psychische Störungen sind bei Patienten mit Kokainabhängigkeit eher die Regel als die Ausnahme”, berichtete PD Dr. Sylvie Petitjean, Basel. In einer Stichprobe an den Basler Universitären Psychiatrischen Kliniken zeigten fast die Hälfte der kokainabhängigen Patienten 4 bis 8 komorbide psychische Störungen. Den größten Anteil machten mit fast einem Drittel affektive Störungen aus, gefolgt von ADHS, Angststörungen und psychotischen Störungen.
Bei den Persönlichkeitsstörungen sind Borderline-Störungen und kombinierte PST am häufigsten. “Nur etwa 8 Prozent der Patienten kommen mit einer alleinigen Kokainabhängigkeit in unsere Klinik”, konstatierte Petitjean. Sehr oft bestehen weitere Abhängigkeiten von Alkohol, Opioiden oder Tabak.
Anhand einer randomisierten Studie mit 60 kokainabhängigen Patienten (größtenteils mit weiteren psychiatrischen Diagnosen) untersuchte Petitjean die Wirkung einer kognitiven Verhaltenstherapie mit und ohne zusätzlichem Notfallmanagement. In beiden Gruppen reduzierte sich der Kokainmissbrauch vergleichbar gut.
“Nach sechs Monaten hatten die psychischen Probleme abgenommen, fast 95 Prozent berichteten, dass es ihnen besser gehe mit der Therapie”, sagte die Psychologin. Demnach eigne sich die kognitive Verhaltenstherapie nicht nur für mono-Abhängige sondern auch für Kokainabhängige mit psychischen Komorbiditäten. Laut Petitjean hat sich der integrative Ansatz der Behandlung insbesondere auf die Haltequote positiv ausgewirkt.
Quelle: Symposium “Suchterkrankungen und psychische Störungen – aktuelle Behandlungsansätze der Komorbidität”, anlässlich des 19. Interdisziplinären Kongresses für Suchtmedizin in München.